Schlaumeier der Lüfte

Josef H. Reichholf im Gespräch mit Katrin Heise · 05.05.2009
Menschen haben keine besonders hohe Meinung von Rabenvögeln. Das zeigen Ausdrücke wie Unglücksrabe, Rabenmutter, diebische Elster oder alte Krähe. Dabei verfügen die Tiere im Vergleich zu anderen Vögeln über "ungemein viel Intelligenz", wie der Ornithologe Josef H. Reichholf herausgefunden hat.
Katrin Heise: Sie bevölkern die Sagen und die Literatur, sie sind Symbole und prägen Sprichworte: die Raben. Barbarossa kann erst wiederkehren, wenn keine Raben mehr um den Kyffhäuser-Berg fliegen, der germanische Gott Odin war stets begleitet von Kolkraben, König Artus verwandelte sich in einen Raben, ebenso wie die Müllersburschen in Otfried Preußlers "Krabat". Es ist deutlich, der Rabe ist weit mehr als nur Unglücksrabe oder aber Rabenmutter, er fasziniert die Menschen. Ganz besonders fasziniert er den Zoologen und Ornithologen Professor Dr. Josef H. Reichholf. Er hat ihm ein Buch gewidmet, das heißt "Rabenschwarze Intelligenz". Herr Reichholf, ich freue mich, von Ihnen zu hören.

Josef H. Reichholf: Ich freue mich auch, hallo!

Heise: Ich grüße Sie. "Rabenschwarze Intelligenz" und im Untertitel "Was wir von Krähen lernen können". Da können Sie vielleicht gleich ein bisschen Nachhilfe geben. Wie unterscheiden sich denn eigentlich Krähen und Raben?

Reichholf: Wenn man es zoologisch betrachtet, eigentlich gar nicht, denn sie sind Ausdruck für den Begriff Krähen- oder Rabenvögel. Das ist eine Vogelfamilie, die höchst entwickelte in der Vogelwelt. Wenn wir aber den landläufigen Ausdruck zugrunde legen, dann sind die Raben die großen und die Krähen die mittelgroßen oder kleineren Vertreter. Und da macht die Unterscheidung auch tatsächlich sehr viel Sinn, denn die großen Raben sind erheblich intelligenter als die ohnehin schon sehr cleveren kleineren Krähen.

Heise: Da fangen wir mal an, über diese ganze Familie zu sprechen. Sie sind ja schon als Zehnjähriger auf den Raben beziehungsweise die Krähe gekommen. War das Zufall?

Reichholf: Nein, Zufall nicht. Ein Junge im Dorf hatte eine Dohle, eine zahme Dohle, und das imponierte mir sehr, ich wollte auch eine haben. Und dazu musste man auf den Kirchturm steigen – innen drinnen, nicht außen –, um zu einer jungen Dohle zu kommen. Das tat ich auch, obwohl es natürlich vom Pfarrer streng verboten war. Aber diese Art von Sünde, die riskierte ich damals. Und es war ein wirklich eindrucksvolles, wenngleich nur kurzes Erlebnis, weil diese kleine Dohle, die ich, wie ich meinte, fachmännischem Blick auswählte, war natürlich schon viel zu weit entwickelt, um auf einen Menschen geprägt zu werden. Sie akzeptierte mich zunächst einfach, weil der Hunger da war, als Pfleger, wurde dann sehr vertraut, zahm. Aber als sie ausgewachsen war, flog sie davon zu ihresgleichen.

Heise: Die Dohle gehört also auch zur Familie der Raben und Krähen. Offenbar haben diese wenigen Wochen Sie aber so fasziniert, dass Sie nicht mehr von diesen Tieren losgekommen sind. Was fanden Sie denn so großartig?

Reichholf: Ach, das fing zunächst ganz harmlos an. Wenn ich – Hansi hieß die Dohle – Hansi rief, dann antworte sie, da, da, wie man in der Menschensprache das auffassen konnte. Es war natürlich einfach dohlisch. Das ist der Kontaktruf der Dohlen, die hat ganz normal reagiert. Und dann kam sie, und das ist einfach toll, wenn ein Vogel angeflogen kommt, auf der Schulter landet, dann das Ohrläppchen beknabbert und irgendetwas – für mich natürlich völlig Unverständliches – ins Ohr hineinplappert, fast flüstert, weil dann die Stimme auch nicht sehr laut ist. Dann das Köpfchen: Man hat das Gefühl, Klugheit spricht aus den Augen, wie das Köpfchen gedreht wird, wenn sie zuschaut oder zuhört. Und irgendwo wird man da begeistert und möchte dann mehr wissen, mehr erleben. Und viel mehr noch konnte ich dann erleben, als ich eine Rabenkrähe bekommen hatte, also die kleine Version des großen Raben. Die war dann klein genug, die hatte ein Sturm aus dem Nest geworfen. Und bei der Aufzucht war sie dann, weil die Augen ursprünglich noch geschlossen waren, auf mich als Mensch geprägt. Und da war dann der Einblick in das Leben dieser Krähen wirklich ungemein spannend.

Heise: Das heißt, diese kleine Dohle und später die Rabenkrähe standen sozusagen Pate für Ihren ganzen Berufsweg dann eben als Zoologe und Ornithologe. Sie haben die Klugheit schon erwähnt, die Sie schon in den Augen sehen können. Geben Sie mal Beispiele! In Ihrem Buch haben Sie auch so viele Beispiele für ein Verhalten, was man erst mal einem Vogel gar nicht so zutraut.

Reichholf: Ja, fangen wir bei der Dohle an. Ein Freund hatte ebenfalls eine Dohle, da war ich inzwischen dann schon beginnender Student, und der fuhr mit ihr – der lebte in einer kleinen Stadt – zum Herumfliegen für die Dohle aus der Stadt raus, so ein bisschen auf die Felder und Wiesen, und die Dohle war im Auto. Aber irgendwo wurde ihr das langweilig, und bei langsamer Fahrt draußen wollte sie dann rausfliegen. Das konnte sie. Und dann hat sie sich selbst angelernt, wenn sie wieder ins Auto wollte, vor der Windschutzscheibe des natürlich entsprechend langsam fahrenden Autos, so 30, 40 Stundenkilometer, herunterzufliegen. Dann hat der Freund eine Seitenscheibe runtergedreht, den Arm rausgestreckt, dann landete die Dohle auf dem Arm und ließ sich ins Auto reinholen und setzte sich dann auf die Rückenlehne. Und das aus fahrendem Fahrzeug heraus, also heutzutage natürlich unmöglich nachzumachen, außer in ganz einsamer Feldflur, auf den Feldwegen. Aber der Vorgang als solcher, dass die kleine Dohle das lernt, das war natürlich ungemein fasziniert. Und die großen Krähen und Kolkraben, die lernten einfach noch viel, viel mehr. Da wurde man als Mensch auch immer wieder überrascht und war fasziniert von ihren Fähigkeiten.

Heise: Gerade die Autos scheinen es ja den Raben oder den Krähen anzutun oder angetan zu haben. Sie schildern eine wirklich verrückte Begebenheit. Die Tokioter Raben scheinen da ganz besonders helle zu sein, die knacken Nüsse an Ampeln mithilfe von Autos.

Reichholf: Ja, also bei uns ist es weit verbreitet, dass Krähen im Spätsommer, Herbst, wenn die Walnüsse zu reifen beginnen, diese mit den Schnäbeln fassen, dann fünf bis sieben oder acht Meter in die Luft fliegen, um sie dann über einem Parkplatz oder auf einer schwach befahrenen Straße abzuwerfen. Dann brechen die Nüsse auf und sie kommen an die eigentliche Nuss heran. In Tokio lernten die Krähen, den Autoverkehr dazu zu benutzen. Sie warten einfach eine Rotphase ab, legen dann die Nüsse auf die Straße, die Autos fahren wieder an, überfahren viele dieser Nüsse, und dann kommen in der nächsten Ampelphase die Krähen und holen sich die Splitter. Und das beginnt auch bei uns in Deutschland bereits. Wir haben in den letzten Jahren mehrfach ein ähnliches Verhalten schon beobachten können.

Heise: Also durchaus intelligente Tiere, die den Straßenverkehr für sich zu nutzen wissen. Sie ernähren sich vorwiegend oder viel von Nüssen, sie verstecken sie, und Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sie selbst dann in einem überschneiten Feld wiederfinden, ohne dass sie da irgendwelche Schildchen natürlich aufgesteckt haben. Also auch da eine hohe Intelligenz. Ich habe von Ihnen den Satz gelesen: Sich in andere hineinversetzen, den Jäger zum Gejagten machen, das kann kein anderer Vogel. Heißt das, dass die Krähe und der Rabe, dass die logisch denken können?

Heise: Mit absoluter Sicherheit. Es gibt nicht nur den von mir geschilderten Fall, sondern zahlreiche weitere ähnliche Beobachtungen, die Menschen gemacht haben, die über Jahre sich mit diesen Vögeln befasst hatten. Und diese Beobachtungen zeigen ganz klar, dass Kolkraben und auch Rabenkrähen vorneweg denken können, also ein Ergebnis vorwegnehmen können, so wie wir das machen bei Überlegungen, und das sie gleichsam im Geist durchspielen und dann in der Praxis ausführen. In meinem konkreten Fall ging es darum, dass ein Hund, der als guter Hund eingestuft wurde, von einem Kolkraben nicht verjagt werden durfte. Da hat der Besitzer lange auf den Vogel eingeredet, und er schien es kapiert zu haben, bis er eines Tages auf seine Weise das Problem löste: Er flog nämlich im Tiefflug dicht über dem Boden vor dem Hund und gab immer gerade so viel Gas – könnte man sagen –, dass es ausreichte, dass ihn der Hund nicht erwischte. Und als der Hund völlig entkräftet zusammenbrach, flog der Kolkrabe auf den nächsten Baum, setzte sich auf einen Ast, schüttelte das Gefieder und sagte ganz ruhig und sachlich: Mau – so hieß er – Mau, bist ja mein Braver, bist ja mein Braver.

Heise: Das heißt, er ist gerade noch ironisch eigentlich dazu.

Reichholf: Da ist man sprachlos.

Heise: Woher kommt eigentlich diese Klugheit bei diesen Tieren?

Reichholf: Nun, das hat eine lange Vorgeschichte in der Evolution. Die Rabenvögel sind der jüngste Spross unter den Singvögeln. Sie haben ein verhältnismäßig großes Gehirn entwickelt, sie sind sozial in ähnlicher Weise wie wir Menschen, also mit weitgehender und dauerhafter Paarbindung. Sie leben in oft enger Gemeinschaft mit den Menschen, nutzen also ähnliche Nahrungsquellen, haben ähnliche Herausforderungen zu meistern, wie so in der Menschenwelt das üblich ist. Und das alles fügte sich zusammen zu einem Urbild des Raben, der äußerlich unscheinbar, also fast unsichtbar, weil es schwarz ist – das ist ja keine Farbe, sondern das Fehlen von Farbe –, ohne besondere Merkmale. Aber im Kopf, da ist ungemein viel Intelligenz, sodass gerade die großen schwarzen auch die ganz besonders cleveren sind. Die bunte Verwandtschaft, die Paradiesvögel, sind im Vergleich dazu ziemlich dumm.

Heise: Bei Wilhelm Busch, da muss der Rabe sogar hängen. "Die Boshaft war sein Hauptpläsier, drum, spricht die Tante, hängt er hier!" Wie kam eigentlich der Rabe oder wie kommen die Krähen zu ihrem schlechten Image?

Reichholf: Ja, das hat Wurzeln im Mittelalter oder im Spätmittelalter. Als die Hexenverfolgungen anfingen, da wurden die früher ja hoch geschätzten weisen Frauen, weil die mit vielerlei Dingen, auch mit der Geburt umzugehen verstanden, vonseiten der Kirche verdammt, verfolgt, auf den Scheiterhaufen verbrannt, und sie brauchten sozusagen Symbole des Teufels, die sie begleiteten. Und das ist die schwarze Katze, die heute für viele Abergläubische noch einen schlechten Tag bringt oder Unglück ganz unmittelbar, und eben der schwarze Rabe. Und der passte ganz besonders, weil in der Zeit gab es ja die großen Seuchenzüge der Pest und auch andere Seuchen. Und da wurden oft auch tote Menschen, weil man es nicht schaffte, die Toten zu bestatten, in die Burggräben geworfen und dort eben von den Raben verzehrt wie in anderen südlicheren Ländern das in früherer Zeit oder zum Teil heute noch die Geier getan hatten. Und diese Verbindung mit den Leichen, auch mit Galgen, die damals aufgestellt worden waren, und diesen großen, schwarzen Vögeln, die wirkt bis heute fort. Und sozusagen ein letzter Höhepunkt in dieser Richtung war ja dann Hitchcocks Film "Die Vögel", wo Krähen, Amerikaner-Krähen in diesem Fall, und Möwen den Menschen angreifen und verfolgen.

Heise: Das macht also wieder unsere Moral aus der ganzen Geschichte. Wer mehr über Raben und Krähen und ihre Klugheit wissen möchte, der schlage nach bei Josef H. Reichholfs Buch "Rabenschwarze Intelligenz". Herr Reichholf, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!

Reichholf: Ich bedanke mich bei Ihnen!