Schattenseiten im Musterländle

Rezensiert von Maximilian Preisler · 17.07.2006
In der litarischen Sammlung porträtiert der Chefredakteur der "Stuttgarter Zeitung" außergewöhnliche Menschen, die im Musterländle"Baden-Württemberg leben oder lebten, in dem man derart ungerade Lebensgeschichten eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hätte. Dabei liegen in jeder der Biografien Glück und Unglück stets nah beieinander.
Geschichten, die das Leben schrieb. Zum Beispiel die Geschichte von Alfons Walz, der leicht süffisant als "erster Playboy von Oberschwaben" eingeführt wird. Früher einmal Europas größter Versandhändler für Babyartikel, dann, nach dem Unfalltod des Geschäftsführers, versilberte er den Betrieb - und ging auf Goldsuche nach Südamerika.

Daneben erwarb er wahllos Dutzende von Immobilien in ganz Deutschland, und ließ sich von einem betrügerischen Anlageberater schon einmal 10 Millionen aus der Tasche ziehen. Die Frage nach dem "Warum" beantwortet er nonchalant so: "Wissen Sie, wenn Sie viel Geld haben, wollen Sie noch mehr". Der heute 85-Jährige wird versorgt von einer Betreuerin. Das ist seine malende Tochter, und einer Pflegerin, die halb so alt ist wie er. In Bad Waldsee hat so mancher daran zu schlucken.

Josef-Otto Freudenreich beschreibt Abstürze: von Menschen, die an der Spitze der Gesellschaft standen und sich nun ganz unten wiederfinden. Es sind bestürzende Geschichten, die von korrupten Managern, eitlen Millionären und betrügerischen Unternehmern erzählen, und das in einem - nach außen so festgefügt scheinenden - deutschen Musterland.

Daneben stehen Reportagen, die von Lebensknicks einfacher Leute berichten: durchschnittliche Menschen, deren Fall nicht so tief sein mag, deren Leid aber gerade so schmerzt. Freudenreich macht uns auf die dunklen Seiten dieses Landes aufmerksam, und seine Sympathie gehört dabei den Schwachen, den Benachteiligten.

Es sind Geschichten, die das Leben geschrieben haben mag, die aber von einem findigen Journalisten aufgestöbert wurden und nach minutiöser, oft gar jahrelanger Recherche dem Leser präsentiert werden.

Josef-Otto Freudenreich kommt selbst aus jenem Musterland, von dem der Untertitel seines Buches spricht. Das ist von Vorteil: Sensationslust ist seine Sache nicht - er setzt auf die altmodische Tugend der minutiösen Recherche Und er lässt sich Zeit, verfolgt einen Fall - wenn es denn sein muss - über Jahre. Ein Hoch auf die Zeitung, die sich solch einen "Chefreporter" leistet.

Es mag nicht immer leicht gewesen zu sein, ergründet Freudenreich doch sehr brisante Fälle von Willfährigkeit und Korruption, und zwar ganz oben. Zum Beispiel im Thermalbad Bad Buchau: Auf Kosten der Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg - mit 3,2 Millionen Versicherter eine der großen im Lande - ließ ihr Spitzenmann für sich und die ganze Familie die besten Zimmer reservieren, Sieben-Gänge-Menüs bereiten, und edle Getränke reichen.

Luxusreisen wurden für die Männer in den Aufsichtsgremien organisiert. Die Beamten des Sozialministeriums, das sich schließlich 2002 zu einer Überprüfung des vielverzweigten "Selbstbedienungsladens" entschloss, fanden reichlich Belege für exquisite Geschenke. Auch so merkwürdige, wie ein begehbarer Weinkühlschrank im Wert von 10.440 Mark.

Mit leicht ironischer Distanz schreibt Freudenreich - ohne Häme - oft gar mit leisem Verständnis für die gefallenen Wirtschaftsengel, deren patriarchalische Willkür in starkem Kontrast steht zu dem protzenden Selbstbewusstsein der Nachrückenden.

Einige Grade schärfer fallen seine Abrechnungen mit der deutschen Bürokratie aus. Eine Familie aus dem Kosovo fühlt sich in Stuttgart zu Hause, die Arbeiterwohlfahrt lobt die "engagierten Integrationsbestrebungen", wenn nur nicht der Vater - aus Unkenntnis - sich eines Sozialbetrugs hätte zuschulden kommen lassen. Wegen 3000 Mark muss die Familie zurück.

Das Fehlverhalten des Vaters wird jedoch bei Weitem aufgewogen durch das schrecklich korrekte - will sagen unmenschliche - Verhalten diverser staatlicher Institutionen. Innenministerium, Regierungspräsidium und Ausländeramt heißen die modernen Felsen Skylla und Charybdis. Wer in deren Strudel gerät - und keinen Beistand besitzt - ist verloren.

Und dann gibt es noch eine Reportage über eine "Musterländle"-Familie, die einen frösteln lässt. Eine Familie, die durch behördliche Willkür zerstört wird? - Oder eine Familie, die sich selbst zerstört? Vor Gericht wird über das Sorgerecht für die Kinder gestritten. Die behördliche Anklage lautet: Unter den Augen der Eltern sind die drei Töchter fast verhungert. Der Vater klagt stattdessen: Man wolle die Kinder der Obhut der Eltern entreißen. Jede Seite kann sich auf Zeugen und Gutachten stützen. Aussage steht gegen Aussage.

Das Innenleben der Familie wird durchleuchtet, doch es wird nicht deutlich: Ist der Vater nun eine Art Guru, oder zwingen die Kinder die Eltern, sich von aller Umwelt fernzuhalten? Hier wagt auch der Reporter nicht, ein Urteil abzugeben. Alle sind verstrickt und starr vor Schrecken.

Jeder Hilfeversuch verschlimmert nur die auswegslose Situation. Ein Anflug von Tragik legt sich über die Berichterstattung. Ein Abgrund tut sich auf, der sich mit den ansonsten so probaten Mitteln der Aufklärung und des Protests nicht mehr schließen lässt.

Josef-Otto Freudenreich: Abstürze. Reportagen vom Scheitern und Aufstehen in einem Musterland.
Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2006, 194 Seiten