Schamgefühl

Burkini und Bikini − wie viel Nacktheit wollen wir?

Muslimische Schülerinnen stehen im Westbad in Freiburg in Ganzkörper-Badeanzügen mit ihrer Lehrerin am Rande des Schwimmbeckens.
Muslimische Schülerinnen stehen im Westbad in Freiburg in Ganzkörper-Badeanzügen mit ihrer Lehrerin am Rande des Schwimmbeckens. © dpa / picture alliance / Rolf Haid
Till Briegleb im Gespräch mit Korbinian Frenzel  · 22.07.2016
Mehr Geduld im Umgang mit unterschiedlichen Vorstellungen von Nacktheit und Körperlichkeit, fordert der Journalist Till Briegleb mitten in der Freibadsaison. Wie schon einmal in den 1960er-Jahren müsse das in der Gesellschaft neu ausgehandelt werden.
"Auch in der westlichen Zivilisation hat es 100 Jahre gedauert, bis wir einen sehr strengen Moralkodex in einen sehr lockeren umgewandelt haben", sagte der Journalist und Buchautor Till Briegleb im Deutschlandradio Kultur. Diese Geduld sei jetzt auch nötig, wenn im Freibad Bikini und Burkini aufeinandertreffen. Im Miteinander verschiedener Kulturen sei es normal, dass unterschiedliche Vorstellungen von Nacktheit und Körperlichkeit sichtbar würden.

Kaum Vorfälle mit Grabschen in Berlin

Wie die Bäderverwaltung in Berlin kürzlich bekannt gegeben habe, gebe es in den dortigen Schwimmbädern allerdings kaum Vorfälle mit Grabschen oder sexuellen Übergriffen. "Die haben eher das Problem, dass die Muslime ins Wasser springen, obwohl sie nicht schwimmen können", sagte Briegleb. Das habe auch mit Scham zu tun, weil diese Menschen offenbar nicht zeigen wollten, dass "sie eben keine ganzen Männer sind, die nicht schwimmen können". Aber natürlich gebe diese Konflikte, was bedeute, dass mit Neuankömmlingen neu verhandelt werden müsse, was in dieser Gesellschaft gehe. "Das ist ein Prozess, der ist ähnlich wie in den 60er-Jahren."

Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Es ist die Zeit der Freibäder, gerade Sommerzeit, Ferienzeit, das sind Orte, die erstens Spaß machen, das sind Orte, die aber auch wie kaum irgendetwas anderes wunderbare Gesellschaftsstudien zulassen. So viel Menschen auf so engem Raum, das haben Sie selten, und ich konkretisiere das Bild mal: So viel nackte Haut auf einmal, so viel Mensch, so nah an dem Naturzustand, in dem er geschaffen wurde, haben Sie selten.
Und gleichzeitig können Sie heute ordentlich Kulturkonflikt finden, wenn Sie wollen: Der Burkini ist ein Stichwort, Massenschlägereien oder auch Grabschereien sind andere – Zeit, übers Nacktsein zu sprechen, über die Begegnung mit fremden Menschen ausgerechnet im Schwimmbad. In Hamburg ist Till Briegleb im Studio, Journalist und Autor des Buches "Die diskrete Scham". Guten Morgen!
Till Briegleb: Guten Morgen!
Frenzel: Wenn wir uns mal so etwas wie eine historische Nacktheitsskala vorstellen, kann man sagen, so viel Haut wie heute hat bisher noch keine Epoche gewagt vor uns?
Briegleb: Ja, wenn man bestimmte einfache Kulturen der Südsee nimmt, die dann ganz nackt rumgelaufen sind, dann haben wir noch ein bisschen Luft nach oben, aber ich glaube, in der Entwicklung der europäischen Zivilisation sind wir da schon ziemlich weit vorn.
Frenzel: Man könnte aber sagen, in den 70ern und 80ern, da war mehr oben ohne, oder?
Briegleb: Da wurde das ja überhaupt erst mal durchgesetzt. Also in den 70ern und 80ern waren ja noch ganz fest die Normenkorsette der 50er-Jahre virulent, das heißt, die Leute waren eigentlich überhaupt nicht auf Nacktheit eingestellt, und das war ja geradezu eine Protestform, dann mal die Brust freizumachen – also zumindest für die Frauen, für die Männer war es ja schon immer erlaubt. Ab da wurde ja eigentlich verhandelt, wie viel Nacktheit ist in der Öffentlichkeit eigentlich überhaupt möglich.

Nacktsein als Rebellion ist vorbei

Frenzel: Aber Nacktsein als Rebellion, also in diesem Sinne, im 68er-, im Hippiesinne, die ist dann also passé?
Briegleb: Die ist halbwegs passé, weil wir uns ja an viele Zustände gewöhnt haben und weil diese Gesellschaft ja eigentlich auch in einem Äußerlichkeits- und Körperkult angekommen ist, wo Nacktheit überhaupt nicht mehr so wahnsinnig mit Scham besetzt ist, also weder in den Medien noch im Freibad, glaube ich.
Frenzel: Einerseits ja, andererseits natürlich auch nicht. Haben wir da vielleicht keine klaren gemeinsamen Trends mehr? Also es gibt ja einerseits diesen absoluten Körperkult, wo man sich zur Schau stellt, auch mit Tattoos, mit Branding, mit Waxing und so weiter, und gleichzeitig haben wir aber auch das Phänomen, dass sich Leute gerne mehr anziehen, Stichwort Burkini. Laufen da die Entwicklungen auseinander?
Briegleb: Es ist ja ganz klar, wenn unterschiedliche Kulturen mit unterschiedlichen Traditionen aufeinanderstoßen und das ist natürlich in einer Gesellschaft, wo Menschen zum Beispiel aus einem islamisch geprägten Kulturkreis kommen, dass da sehr unterschiedliche Vorstellungen auch über Nacktheit und Körperlichkeit aufeinanderstoßen.
Ich hab allerdings jetzt gerade kürzlich ein Interview gelesen vom Pressesprecher der Bäderländer in Berlin, der sagte, es gibt kaum Vorfälle mit Grabschen und sexuellen Übergriffen, die zwischen muslimisch Geprägten und Deutschen stattfinden. die haben eher das Problem, dass die Muslime ins Wasser springen, obwohl sie nicht schwimmen können, was auch mit Scham zu tun hat, weil sie nicht zeigen wollen, dass sie eben keine ganzen Männer sind, die nicht schwimmen können.
Aber natürlich gibt es diese Konflikte, und das bedeutet, wir sind jetzt in einer Situation, wo wir eben mit den Neuankömmlingen oder auch mit Leuten, die schon sehr lange hier wohnen und ihre alten Kulturen wieder annehmen, neu verhandeln müssen, was in dieser Gesellschaft geht. Und das ist ein Prozess, der ist ähnlich wie in den 60er-Jahren.

Kulturelle Missverständnisse

Frenzel: Ich würde gerne mal bei den Grabschereien im Schwimmbad bleiben. Sie haben diese Pressemitteilung zitiert, es gibt ja aber häufig diese Vermutung, dass es eben da ein kulturelles Missverständnis gibt, wenn Männer sehen, die europäische Frau, die viel nackte Haut zur Schau stellt, dass das so etwas wie eine Einladung ist. Aber Sie würden sagen, das ist kein kulturelles Missverständnis?
Briegleb: Doch, aber ich glaube, das kulturelle Missverständnis liegt eigentlich woanders. Auch bei diesen Grabschereien damals Silvester, die so wahnsinnig hochgespielt worden sind, ist ja das Problem eigentlich, dass es sich hier um Gruppen von Männern handelt, die extrem ausgeschlossen sind aus der Gesellschaft und überhaupt keine Möglichkeiten haben, irgendwo Erfolge zu generieren. Solche Gruppen – völlig unabhängig von welcher Kultur sie kommen – bilden ganz bestimmte Riten untereinander aus, die dazu führen, dass man sich jetzt untereinander beweisen muss.
Das hat man irgendwie mit Rockergruppen oder anderen Sachen in der Vergangenheit, den sogenannten Halbstarken, ja auch schon mal gehabt, das ist kein ganz neues Phänomen. Da geht es, glaube ich, überhaupt nicht so sehr um Kultur, sondern einfach, dass da Leute aus einer gewissen kulturellen Ausgeschlossenheit eben zu Verhaltensweisen neigen, die ihnen vielleicht sonst so gar nicht eigen wären. Also in ihrer Kultur, wo sie herkommen, wird sich wahrscheinlich so überhaupt nicht verhalten.

Besser Brücken bauen als Verbote

Frenzel: Wie kann man das denn zusammenbekommen? In Bayern gibt es ein Beispiel: In einem Hallenbad bei Regensburg, da gibt es am reinen Frauenbadetag ein Burkiniverbot. Ist so was sinnvoll?
Briegleb: Ich glaube, eine große Gesellschaft muss verschiedene Möglichkeiten ausprobieren, wie sie damit umgeht. Verbote sind in den meisten Fällen von kurzer Wirksamkeit und werden irgendwann auch immer wieder erfahrungsgemäß zurückgenommen, weil man einfach merkt, man kommt damit nicht so weit, wie wenn man tatsächlich in die Kommunikation mit den Menschen eintritt und versucht, die Brücken zu bauen zwischen den kulturellen Unterschieden.
Und man muss einfach auch sagen, es braucht Geduld für solche Sachen. Also auch in der westlichen Zivilisation hat es hundert Jahre gedauert, bis wir einen sehr strengen Moralkodex in einen sehr lockeren umgewandelt haben, und diese Geduld brauchen wir in solchen Dingen dann einfach auch. Und vielleicht sollten wir auch gar nicht uns von vornherein hinstellen und sagen, wir wissen, wie das geht mit der Nacktheit und wir haben da die absolute Freiheit erreicht, vielleicht ist diese Freiheit ja auch gar keine so große Freiheit.

Patriachiale Strukturen sind virulent

Frenzel: Herr Briegleb, wenn wir über Nacktheit reden – und jetzt tun das auch gerade zwei Männer –, geht es eigentlich immer oder fast ausschließlich um Frauen, nicht um Männerkörper, also Frauenkörper, wie wir die am besten zeigen oder eben auch verhüllen. Ist die ganze Frage am Ende vielleicht doch eher eine Genderfrage, möglicherweise eine Sexismusfrage als wirklich eine kulturelle Frage?
Briegleb: Ich glaube schon, um das alte feministische Wort des Patriarchats zu benutzen, dass wir ja durchaus noch eine Gesellschaft haben, wo patriarchale Strukturen sehr virulent sind – es gibt keine Formel-1-Fahrerin und es gibt kaum Frauen, die ein großes Unternehmen führen. Also kann man erkennen, es gibt eine gewisse Umverteilung, und in dieser Gesellschaft ist nach wie vor natürlich der weibliche Körper viel mehr als Objekt definiert als der männliche, und da ist die Diskussion um Gleichberechtigung und wie man einen Körper wahrnimmt, natürlich auch noch lange nicht ans Ende gekommen.
Frenzel: Das heißt, wir werden sie auch bestimmt einmal weiterführen. Der Sommer ist lang, die Freibäder laden ein. Natur, Kultur, wie viel Nacktheit wollen wir? Ein Gespräch zur Freibadsaison. Till Briegleb, ich danke Ihnen ganz herzlich!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Till Briegleb: "Der diskrete Scham", Insel Verlag 2009, 14,80 Euro

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