Schamanischer Musik-Nomade

Von Mirko Heinemann · 03.07.2006
Moskau zieht schon seit jeher Künstler und Musiker aus allen Landesteilen an. Seit die Hauptstadt Russlands einen massiven Wirtschaftsboom erlebt, hat sich der Trend noch verschärft. Der Moskauer Musiker Karl Khlamkin fusioniert mit seiner multinationalen Band schamanische Gesänge aus Sibirien mit Elementen vom Balkan, jüdischer Musik und Rock’n Roll.
Auf der Bühne im Club Gogol bietet sich ein faszinierendes Bild. Ein Mann mit schwarzem Vollbart und stechendem Blick schlägt wie wild auf eine Trommel ein und singt mit einer düsteren, gutturalen Stimme. Ähnlich ungezähmt wirken die Typen in seiner Band: Der Schlagzeuger trägt einen dünnen Zopf an seinem kahl rasierten Schädel, der Bassist einen Mongolenbart.

In den hinteren Reihen des Konzertsaals, der eigentlich nur ein Bierzelt ist, fallen die ersten Besucher von den Stühlen. Sie trinken schon den ganzen Abend Wodka. Immer wieder grölen sie lauthals den Namen des Sängers.

Auf der Bühne steht Karl Khlamkin, der Schamane der Moskauer Musikszene. Sein Verleger Oleg Tarassov, der zwischen den Wodkaleichen noch aufrecht sitzt, ist fasziniert:

"Das kann man nicht mehr Rockmusik nennen, das ist etwas anderes, etwas Neues. Wir nennen das "wilde Musik". Für die Hitparade ist solche Musik sicher nicht gemacht. Diese Musik kann man nicht hören, man muss sie erleben."

Der Gogol-Club residiert mitten im Zentrum von Moskau, nicht weit von der Twerskaya, der Luxusmeile. In einer Seitenstraße mit restaurierten Altbauten haben sich die Edelboutiquen niedergelassen: Gucci, Prada, Donna Karan. Dazwischen wirkt der Eingang zum Club Gogol mit seinen Metallskulpturen und bemalten Wänden wie ein Fremdkörper.

Nach dem Konzert bin ich mit Karl Khlamkin zum Tee verabredet. Ein skurriles Bild: Im Hinterhof steht eine mongolische Jurte. Sie ist mit Teppichen ausgelegt, an den Zeltwänden hängen Schilde, Felle und Spieße. Die Musiker sitzen im Kreis auf dem Boden. Im Hintergrund dröhnt die Diskomusik aus dem Club.

Khlamkin trägt ein schwarzes T-Shirt. Darauf ist eine Bierflasche aufgedruckt, die mit einem roten Balken durchgestrichen ist. Bis vor kurzem, flüstert sein Verleger, hatte er geglaubt, dass Khlamkin sich zu Tode saufen würde. Mit 35 Jahren zog Khlamkin die Notbremse. Er hörte auf zu trinken. Sein T-Shirt soll ihn in jeder Situation daran erinnern.

Extremer konnten die Einflüsse nicht sein, die sich in Karl Khlamkin trafen. Aufgewachsen in der lettischen Hafenstadt Riga, stammt seine Großmutter aus der entgegengesetzten Ecke der Sowjetunion, der zentralasiatischen Republik Tuwa, die an die Mongolei grenzt. Von ihr hat er den gutturalen Gesang erlernt. Als Kind sang sie ihm die Lieder der Schamanen vor:

"Ich habe den Gesang übernommen und in meiner Musik eingesetzt."

Schamanische Bräuche, Gesänge der Nomaden, Trance-Musik – fremde Kulturen haben Karl Khlamkin stets fasziniert. Seine Band besteht aus vielen Nationalitäten: Der Schlagzeuger stammt aus Kasachstan, der Akkordeonist aus Sibirien. Der Bassmann ist Tatare.

"In der Sowjetunion waren alle Völker gemischt, es gab ein internationales Flair. Ich habe recherchiert, dass die Kultur aus Tuwa, so weit ich sie von meiner Großmutter gelernt habe, Gemeinsamkeiten mit der jüdischen Kultur aufweist. Ich habe auch jüdische Elemente in meine Musik integriert."

Neben jüdischen finden sich Elemente vom Balkan und den Turkstaaten in seiner Musik. Karl Khlamkin ist viel gereist und oft umgezogen. Von Riga ging er ins weißrussische Minsk, dann nach St. Petersburg. Seit einigen Jahren lebt er in Moskau. Khlamkin hat die russische Hauptstadt lieben gelernt.

"Viele Musiker kommen von überall her nach Moskau, weil hier das Geld ist. Es gibt viele Clubs, viele Auftrittsmöglichkeiten. Man kann gut leben. Moskau zieht die Kreativität an. Eine sehr positive Stadt. Als Musiker kann man herumexperimentieren und sich selbst verwirklichen. Und man trifft Leute, die auf der gleichen Wellenlänge ist wie man selbst."

Karl Khlamkin, ein Grenzgänger zwischen Lettland und der fernen Republik Tuwa. Jetzt zieht es ihn nach Westen. Europa, bekennt er, fühle er sich näher als den Steppen Asiens.

"Ich bin ja in Lettland aufgewachsen. Dort sind viele deutsche Einflüsse spürbar. Das hat mich schon beeinflusst."

Gerne würde Karl Khlamkin in Deutschland spielen. Bisher hat es nicht geklappt. Der Großstadt-Schamane ist genervt von der Visaregelung, die es Russen schwer macht, in die Europäische Union zu reisen. Für Karl Khlamkin, den Nomaden zwischen den Kulturen, sind Grenzen einfach nur überflüssig.