Saviano und di Lorenzo erklären Italien

"Italien stirbt einen langsamen Tod"

 Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und Roberto Saviano
Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und Roberto Saviano © imago stock&people
08.12.2017
Der italienische Journalist Roberto Saviano wird von der Mafia mit dem Tod bedroht. Wie liebt man ein Land, das einen zur Verzweiflung treibt? fragt ihn Giovanni di Lorenzo, deutscher Journalist und Sohn eines Italieners, in ihrem gemeinsamen Buch.
Die Taschenkontrollen am Eingang demonstrieren auch dem letzten Besucher, dass Roberto Saviano noch immer um sein Leben fürchten muss. Zur Vorstellung seines Gesprächsbandes "Erklär mir Italien! Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?" ist er aus New York angereist. Von hier aus pendelt er regelmäßig nach Italien. Die Rollen im Buch und auf der Bühne sind klar verteilt: Saviano liefert die nüchternen Fakten zu seiner enttäuschten Landesliebe.

Pragmatisch statt romantisch

Di Lorenzo ringt mit seiner Sehnsucht nach dem "Land, wo die Zitronen blühen", auch äußerlich: Auf der Bühne des Berliner Theaters passt der fast 60-Jährige viel besser zum Typ des schöngeistigen Intellektuellen aus dem Süden im eleganten Jackett und mit lockigem Haar, als sein 20 Jahre jüngerer Gesprächspartner. Im Verlauf des Abends arbeiten sich die zwei mit Hilfe des Moderators Peter von Becker an den drei großen Italien-Themen ab: Männer, Mafia und Migranten. Giovanni di Lorenzo erklärt:
"Für mich ist das Unbegreiflichste, dass die Deutschen glauben, die Italiener seien ein romantisches Volk. Ich finde Italiener sind das pragmatischste Volk, das ich kenne."
Und dann zitiert Giovanni di Lorenzo Roberto Savianos pragmatische Erklärung des Stereotyps vom Italiener als Kommunikationsgenie und Meister des Flirtens:
"Er hat gesagt, in einem Land, wo so wenig funktioniert, ist jede Verbindung die du aufbaust, 'ne Versicherung, dass dir dann auch was gelingt. Und dann sagt er auch, ähnlich funktional ist das Umwerben von Frauen aus dem Norden."
Dem Klischee des südländischen Frauenhelden entspricht das Klischee von der selbstbestimmten blonden Frau aus dem Norden. Saviano erinnert sich an die deutschen Urlauberinnen auf dem Campingplatz in der Nähe seines Heimatortes bei Neapel
"Wir waren 14, 16 und stellten uns auf und schauten auf diese nördlichen Frauen mit ihrer roten, sonnenverbrannten Haut wie auf das Paradies. Diese Frauen verkörperten für uns eine neue Form von Freiheit."

Die Mafia ist immer noch stark

Es ist der heiterste Augenblick des ansonsten ziemlich ernsten Abends, denn von der Kunst nützliche Beziehungen zu flechten, profitiert vor allem das organisierte Verbrechen. Ob seit seinem Buch Mafia und Camorra an Einfluss gewonnen oder verloren haben, fragt Moderator Peter von Becker. Savianos Recherchen führten zu mehreren Verhaftungen, aber angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in Italien ist der Autor pessimistisch.
"Die Skandale haben nicht zu einem grundlegenden Wandel geführt, weil man als Wähler nicht jemanden haben will, der besser ist, sondern jemanden, der genauso ist, wie man selbst. Und Berlusconi sagt: 'Ich bin derjenigen: Ich bin wie ihr, und jeder, der was anderes von sich behauptet, ist ein Lügner und Betrüger.'"
Die Rückkehr Silvio Berlusconis auf die politische Bühne treibt beide wirklich zur Verzweiflung. Hat ihre Italienliebe noch eine Chance? Roberto Saviano ist skeptisch:
"Ich glaube Italien stirbt einen langsamen Tod, jedes Jahr verlagern 100.000 Italiener ihren Wohnort ins Ausland. Ich glaube, dass man hier einen völlig neuen Gang einlegen muss."

Italiens einzige Hoffnung seien die Migranten

Was Saviano damit meint, sagt er sehr deutlich im Buch: Das dritte "M-Wort" des Abends: Die einzige Rettung Süditaliens aus dem Chaos mit seiner gewachsenen Kultur aus organisiertem Verbrechen und Schweigen sind die Migranten. Er erzählt als positives Beispiel vom süditalienischen Bürgermeister, der die Flüchtlinge als neue Einwohner seiner verödenden Landgemeinde willkommen heißt.
Kritiker haben Di Lorenzo vorgeworfen zu sehr den eigenen Stereotypen nachzuhängen und Saviano, die vielfältige Anti-Mafia Bewegung nicht zu würdigen. Und was die komplexe deutsch-italienische Liebesbeziehung betrifft, verlieren weder Saviano noch di Lorenzo kein Sterbenswörtchen über deren jahrhundertealte Geschichte. Sehnsucht nach Italien trieb immerhin schon die Karolinger über die Alpen.
Aber Savianos Vision von den Migranten als die besseren Italienliebhaber, verlangt seinem deutschen Gesprächspartner Respekt ab, obwohl der anderer Meinung ist. Ganz entgegen des Klischees, wonach die Deutschen die Italiener zwar liebten, aber nicht respektierten. Klischeefrei definiert auch Saviano die komplexe Beziehung der beiden Länder:
"Als Deutscher wird man erkennen, dass man seine deutsche Natur erst begreifen kann, wenn man Italien mitbedenkt. Für die Italiener gilt das ebenso, sie können sich als Italiener eigentlich erst verstehen, wenn sie sich mit den Deutschen auseinandersetzen."
Und beide Italiener und Deutsche brauchen mutige Visionäre wie Roberto Saviano. Die Schlange vor dem Signiertisch nach der Lesung zieht sich durch das ganze Foyer.

Roberto Saviano & Giovanni di Lorenzo:
Erklär mir Italien! Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?
272 Seiten, 20,00 Euro

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