Saphia Azzeddine: "Bilqiss"

Muezzin-Ruf einer mutigen Frau

Minarett und Kuppeln der DITIB-Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh
Als sich der Muezzin nicht rechtzeitig wecken lässt, ergreift Bilqiss die Chance - und verkündet eine Botschaft vom Minarett. © imago / Reichwein
Von Carolin Fischer · 02.09.2016
In "Bilqiss" wird der gleichnamigen Titelheldin der Prozess gemacht, weil sie anstelle des Imams zum Morgengebet aufgerufen hat. Eigentlich steht das Urteil fest: Steinigung. Doch der Richter ist fasziniert von der unbeugsamen Frau im Roman der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Saphia Azzeddine.
Das Verbrechen, das der Titelheldin vorgeworfen wird, sagt bereits viel über sie selbst und den Roman aus: Von der Ehefrau des Muezzins zu Hilfe gerufen, den beide Frauen nicht aus seinem alkoholbedingten Tiefschlaf wecken können, steigt Bilqiss kurzerhand selbst aufs Minarett und deklamiert den Adhan, ruft die Bewohner ihres Dorfes zum Morgengebet.
Dies allein wäre zweifellos Frevel genug, doch fügt sie noch äußerst persönliche Äußerungen hinzu, die in keiner Weise der klassischen Lehre des Islams entsprechen. Bilqiss ist eine Frau, die sich den Mund nicht verbieten lässt, die es wagt, eine eigene Auffassung von Allah zu haben und diese überdies lauthals zu verkünden. Gleichzeitig begeht sie diese Wahnsinntat aus weiblicher Solidarität, denn die Frau des Muezzins "wusste, dass niemand es wagen würde, einen Glaubensmann anzuprangern. Ihren ehrenwerten Gatten." "Sie hingegen würde sofort von allen geächtet werden."

Mit viel Ironie erzählt

Der Roman von Saphia Azzedine handelt vom Prozess, der Bilqiss gemacht wird, dessen Ausgang, die Steinigung, von vorherein feststeht, zumal sie gar nicht daran denkt, um Gnade zu flehen, sondern weiter provoziert. In kurzen, knappen Sätzen erzählt sie ihre traurige Lebensgeschichte – Waisenkind, mit 13 Jahren an einen 46-jährigen Grobian verhökert, den sie mit einer Bratpfanne erschlägt – mit soviel Ironie, dass die Lektüre durchaus vergnüglich ist.
Mag Einiges mitunter leicht überzeichnet sein, so ist die Darstellung des religiösen Fanatismus leider Realsatire, wenn der Angeklagten beispielsweise vorgeworfen wird, dass sie den Schleier nicht "richtig" trägt, sich gar "die Nägel perlmuttfarben lackiert", oder, schlimmer noch, Auberginen und Zucchini im Ganzen kauft, ohne sie vorschriftsgemäß vom Gemüsehändler zerstückeln zu lassen.
Ort der Handlung ist ein Land, in dem Frauen keine Rechte haben, Burka tragen, wo amerikanische Soldaten stationiert sind und Opium angebaut wird. Doch auch dort gibt es Mobiltelefone, die Szenen des Prozesses in der ganze Welt verbreiten, so dass Leandra, eine amerikanische Journalistin, Tochter eines milliardenschweren jüdischen Filmproduzenten, sich aufmacht, um eine Reportage über den Fall zu schreiben. Schnell erkennt sie das offene Geheimnis: Der Richter ist der Faszination der unbeugsamen Frau erlegen und will sie nicht verurteilen.

Bilqiss ist eine wirklich freie Figur

Neben der Ironie, dank derer Saphia Azzeddine diese eigentlich schreckliche Geschichte ihres dritten, nun auf Deutsch erschienen Romans, zu einer vergnüglichen Lektüre zu gestalten versteht, verleiht vor allem das Aufeinandertreffen dieser drei Figuren, die sich jeweils in der ersten Person äußern, das dem Text eine ganz eigene Spannung.
Der Richter ist ebenso wenig ein Henker wie ein religiöser Fanatiker, aber Gefangener des Regimes, während die Frauen des Dorfes Leandra die Beschränktheit ihres Gutmenschentums vor Augen führen. Natürlich kritisiert die franko-marokkanische Autorin die Unterdrückung der Frauen und die Auswüchse des Islam, doch hat sie mit Bilqiss eine wirklich freie Figur geschaffen, die dennoch in ihrer Todeszelle zu Allah betet.

Saphia Azzeddine: Bilqiss
Aus dem Französischen von Birgit Leib
Wagenbach Verlag, Berlin 2016
176 Seiten, 20,00 Euro

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