Sanierungsstau in Berlin

Wenn übelriechende Fontänen aus Gullis spritzen

Arbeiten im Abwasserkanal: Ein Schlauch, ein sogennanter Inliner, wird in den Kanal eingezogen und unter Druckluft und UV-Licht in Form gebracht. Durch das Verfahren wird das Aufreißen von Straßen vermieden.
Durch den Einsatz von sogenannten Inlinern - Schläuche, die in den Kanal gezogen werden -, wird das Aufreißen von Straßen vermieden. © picture alliance / dpa / Daniel Naupold
Von Anja Nehls · 20.10.2017
Berlin hat 19.000 Kilometer Leitungen für Frischwasser und Abwasser. Im Durchschnitt sind diese Leitungen über 50 Jahre alt - viele auch über 100. Der Sanierungsbedarf hat sich bis 2022 aufgestaut. Instandhaltung? Ein Fremdwort. Repariert wird nur das Allernötigste.
In einer kleinen Straße mitten im Wohngebiet in Oberschöneweide im Berliner Südosten ist ein großes rundes Loch. Der Schacht ist offen, der Deckel liegt daneben und an einer Winde fährt eine Kamera in die Tiefe. Lisa Käpernick sitzt im grün-blauen Auto der Berliner Wasserbetriebe und schaut auf einen Monitor.
"Ja, jetzt kannst Du schneller zurückziehen – ja Danke – Also wir machen jetzt gerade eine TV-Befahrung und gucken schon mal vorher, bevor wir den Liner einziehen, ob wir noch irgendwelche Behinderungen haben, irgendwelche einragenden Wurzeln vielleicht oder noch Ablagerungen, die uns das Einziehen des Liners erschweren oder eben gar nicht möglich machen."
Die unterirdische Abwasserleitung von 1931 ist undicht. Nun soll sie nicht komplett ausgetauscht werden, sondern durch das Einziehen eines Liners, einer Art Kunststoffauskleidung, repariert werden, sagt Stephan Natz von den Berliner Wasserbetrieben.
"Es ist natürlich kein Ersatz für einen Neubau, trotzdem ist es ein probates Sanierungsverfahren, zumal es eben etwa ein halbes Jahrhundert anschließend hält."
19.000 km Leitungen für Frischwasser und Abwasser gibt es in Berlin – aus Guss, Beton, Steinzeug, Kunststoff oder Stahl, je nach Verwendungszweck.
Im Durchschnitt sind diese Leitungen über 50 Jahre alt, viele auch über 100 Jahre. Das Alter ist aber nicht unbedingt ein Kriterium für den Zustand. Das älteste bekannte Berliner Wasserrohr ist aus Grauguss und mit 156 Jahren unter der Mühlenstraße in Friedrichshain tip top in Schuss. Einige Abwasserkanäle in Mitte wurden vor 130 Jahren gemauert und keine einzige Fuge ist kaputt. Viele andere aber stammen aus den 1970er- und 80er-Jahren und sind marode.

Vor 1975 verbaute Materialien sind nicht mehr dicht

Abwasserkanäle, wie der in Oberschöneweide sind in der Regel aus Steingut und bestehen aus ineinandergesteckten Elementen. Meistens geht dann irgendwann nicht das Steingut, sondern die Dichtung der Muffen an den Steckverbindungen kaputt, meint Bauleiter Olaf Fritsche.
"Alles was vor 1975 gebaut wurde gelten die Muffen als undicht und mit der Erfahrung stellt sich heraus, die sind undicht, weil die damals verbauten Materialien einfach nicht mehr dicht sind."
Also muss repariert werden – nicht nur in Oberschöneweide, sondern in ganz Berlin.
"Der Rückstau ist enorm, den man da jetzt aufholen muss, wenn man denn alle Leitungen abdichten will, was man natürlich nicht in kurzer Zeit schafft."
In Trinkwasserschutzzonen, wie dem Gebiet in Oberschöneweide, hat die Sanierung der undichten Kanäle durch das Einziehen eines Liners Priorität, erklärt Olaf Fritsche.
"Da müssen ja quasi alle Kanäle dicht sein, um das Grundwasser nicht zu verschmutzen, was dann nachher im Trinkwasser landet und deshalb wird auch großflächig in Trinkwasserschutzzonen mit diesem Verfahren gelinert, um die Kanäle 100 Prozent abzudichten."
Dabei ist das Eindringen vom Schmutzwasser in das Grundwasser meistens gar nicht das Hauptproblem, sondern eher umgekehrt, erklärt Stephan Natz.
"Wir haben sehr hoch stehende Grundwasser. Wenn die Kanäle undicht sind, dann läuft uns das Grundwasser rein und wir müssen auf den Klärwerken mehr verarbeiten, da kostet einen Haufen Strom und Beckenkapazität usw. Das ist eigentlich einer der Hauptgründe, weswegen wir selber hoch motiviert sind, das kanalnetz in Ordnung zu halten."

800 Euro kostet ein Meter sanierter Kanal

100 Mio. Euro im Jahr geben die Berliner Wasserbetriebe für die Sanierung im Abwasserbereich aus, 35 Mio. Euro für die im Trinkwasserbereich. 800 Euro kostet ein Meter sanierter Kanal. Weil inzwischen der größte Teil des Netzes der Berliner Wasserbetriebe schon mal von innen mit einer Kamera befahren wurde, kennt man den Zustand genau. Deshalb werden jetzt nicht mehr Leitungen in ganzen Stadtvierteln saniert, sondern zuerst die Leitungen, die es am nötigsten haben.
An jedem Arbeitstag werden etwa zehn Schäden erledigt. Bis Ende 2022 soll eigentlich alles in Schuss sein, was sich aufgestaut hat. Aber die Berliner Wasserbetriebe sind gegenüber dem eigenen Plan ungefähr zwei Jahre im Rückstand. Kein Einzelfall in Berlin. Marode Infrastruktur ist in der Hauptstadt an allen Ecken und Enden zu spürbar, sagt Matthias Tang von der Berliner Verkehrsverwaltung.
"Es ist unglaublich, ich glaube, die Wasserbetriebe haben da noch viel zu tun, nicht weil sie schlecht sind, sondern weil einfach hier viel passieren muss. Wir stehen halt vor einem Instandsetzungsstau in Berlin, nicht nur bei den Wasserleitungen, sondern auch bei den Straßen und Brücken und den müssen wir jetzt sukzessive abbauen."
Entstanden ist diese Situation durch den jahrelangen harten Sparkurs in Berlin. Die Sanierung der Wasserleitungen wurde allerdings nie durch fehlendes Geld behindert, weil die Berliner Wasserbetriebe immer gut gewirtschaftet haben. Jetzt geht es mitunter schleppend voran, da in Berlin durch die gute Konjunktur die Bauindustrie am Limit ist und nur schwer Firmen zu bekommen sind und weil das Land jede Baustelle unter einer Straße genehmigen muss, sagt Stephan Natz.
"Das ist gerade unter Hauptstraßen in Berlin schon immer eine heikle Sache, weil die Kommune natürlich daran interessiert ist, dass der Verkehr rollt. Das ist meistens die Priorität. Wir müssen dann drauf verweisen, dass es unter einer Straße vielleicht schon eine Häufung von Schäden gegeben hat und weitere drohen und wir dann wirklich Leitungen, also Trinkwasserleitungen oder Abwässerkanäle unbedingt erneuern müssen, um eben, die Ver- und Entsorgungssicherheit hochzuhalten."

70 Prozent der Arbeiten inzwischen grabenlos

In der Tat. Jede Baustelle muss bei der Verkehrslenkung Berlin beantragt werden. Die übernimmt dann die koordinierende Rolle, stimmt eine mögliche Straßensperrung mit den Berliner Verkehrsbetrieben, Anwohnern und Gewerbetreibenden ab und ordnet dann die Sperrung einer Straße behördlich an. Das kann manchmal dauern, muss Matthias Tang von der Berliner Verkehrsverwaltung zugeben.
"Das sollte relativ schnell gehen, wir müssen feststellen, dass es viel Kritik da immer gibt an der Verkehrslenkung Berlin, dass die zu langsam sind, teilweise ist da auch was dran, da gab es Personalprobleme und auch in die Organisation lief oder läuft noch nicht alles rund. Teilweise liegt es aber auch an den Bauherren, die einfach nicht die Unterlagen vollständig einreichen und dementsprechend verzögert sich die Bearbeitung."
Deshalb versuchen die Wasserbetriebe so oft es geht, das Aufbuddeln der Straße und Sperrungen zu vermeiden. 70 Prozent der Arbeiten werden inzwischen grabenlos ausgeführt, durch den Einsatz von Tunnelbohrmaschinen oder den Einzug von sogenannten Inlinern wie in Oberschöneweide. Denn Straßensperrungen werden in Berlin nicht nur langsam, sondern auch nicht besonders häufig genehmigt, das regelt das Berliner Straßengesetz, erklärt Matthias Tang.

615 Rohrbrüche im vergangenen Jahr

"Wenn eine Straße, eine Fahrbahn aufgebuddelt worden ist, von wem auch immer, dann darf sie innerhalbeines Zeitraums von fünf Jahren nicht erneut, aufgebuddelt werden. Bei Geh- und Radwegen beträgt die Frist drei Jahre. Natürlich Ausnahme, angenommen wir haben da gerade eine Baustelle gehabt der BVG meinetwegen und morgen platzt ein Rohr, dann können Sie nicht sagen, wir müssen jetzt fünf Jahre warten, um das Rohr zu reparieren."
Obwohl das Leitungsnetz der Wasserbetriebe inzwischen in die Jahre gekommen ist, passiert das vergleichsweise selten. 615 Rohrbrüche gab es im vergangenen Jahr, einer der spektakulärsten im August 2016 am Mariendorfer Damm im Bezirk Tempelhof. Ein 130 Jahre altes Guss-Rohr einer Abwasserdruckleitung war gebrochen. Übelriechende Fontänen spritzten aus den Gullis auf die Straße, die wurde unterspült, 120 Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen. Durch die Röhre mit einem Meter Durchmesser werden Regenwasser und Fäkalien in ein Klärwerk kurz hinter der Berliner Stadtgrenze gepumpt. Die Auswechslung dieser viele Kilometer langen Leitung unter den Hauptverkehrsstraßen Tempelhofer- und Mariendorfer Damm soll ein Modellprojekt werden, an dem – wenn schon die Straße aufgebuddelt werden muss – nicht nur die Berliner Wasserbetriebe bauen, meint Matthias Tang von der Verkehrsverwaltung.
"Das heißt ab 2022, wenn das losgeht, werden die Wasserbetriebe ihre Rohre auswechseln, die BVG wird vorsorglich den Tunnel abdichten, der U-Bahn, der darunter ist, wir werden dann später, nachdem die Stromleitungen auch erneuert worden sind, gemeinsam mit dem Bezirk oben die Straße umgestalten, aber all das in einem Guss und nicht über Jahre verteilt."
In 11 bis 13 Metern Tiefe liegen die Abwasserleitungen, Trinkwasserrohre liegen nur ca. 1,50 tief.

Vielen Einflüsse, gegen die die Wasserbetriebe machtlos sind

Wie lange dann die erneuerten oder sanierten Leitungen wieder halten ist nicht nur eine Frage des Materials und der Verarbeitung, meint Stephan Natz. 30 Prozent der Schäden werden z.B. durch Baumwurzeln verursacht. Die Hauptrolle spielen aber die vielen Einflüsse, gegen die die Wasserbetriebe machtlos sind.
"Wie ist der Straßenaufbau? Wie viel Last geht über die Straße? Und wie oft werkeln andere Menschen noch an der Straße? Telekom, Gasag, Wasserbetriebe, Vattenfall, alle buddeln hier auf. Das bedeutet, im Boden ist Bewegung, der Boden ist feucht, wir haben einen strengen Winter, der Boden gefriert, all das übt Bewegung und damit Druck auf diese Leitungen aus. Während das einem Stromkabel völlig egal ist, hat ein starres Material wie eine Trinkwasserleitung oder ein Abwasserkanal damit immer zu kämpfen."
In Oberschöneweide ist der Liner jetzt von Schacht zu Schacht auf 35 Meter Länge in den Abwasserkanal eingezogen und per Gebläse an die Wände gedrückt worden. Nun wird er mittels UV Licht ausgehärtet.
"Das sind acht UV Lampen, dieses UV licht häret das Harz aus. – Und da haben wir vorne und hinten Kameras drin und da können wir zugucken, wie der sich aufstellt, ob da noch Falten drin sind irgendwie."
Und wenn nicht, wird das Ganze nochmal mindestens 50 Jahre halten, hoffen die Wasserbetriebe. Und dann geht das Ganze von vorne los, ein Ende gibt es nie. In der deutschen Wasserwirtschaft versucht man pro Jahr 1 Prozent der Frischwasserleitungen zu erneuern, beim Abwasser jeweils ½ Prozent zu erneuern und ½ Prozent zu sanieren.
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