Sanierung des Nord-Ostsee-Kanals

Kein Land in Sicht?

Rushour auf dem Nord-Ostsee-Kanal
Gut 100 Kilometer lang ist der Nord-Ostsee-Kanal. Um ihn zu befahren, dürfen Schiffe nicht mehr als 235 Meter lang und 32 Meter breit sein. © Johannes Kulms
Von Johannes Kulms · 06.06.2018
Marode Schleusen und bröckelnde Böschungen: Für Erhalt und Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals wurde jahrzehntelang zu wenig getan. Nun werden rund zwei Milliarden Euro in die 100 Kilometer lange Wasserstraße investiert − doch die Sanierung stockt.
Autofahrer können Rüsterbergen schon mal verfehlen. Doch für die Seefahrer führt an der kleinen Gemeinde kein Weg vorbei. Denn Rüsterbergen liegt direkt am Nord-Ostsee-Kanal. Genauer: Etwa auf der Hälfte der knapp 100 Kilometer langen Strecke. Hier steht für alle großen Schiffe der Lotsenwechsel an.
Martin Finnberg ist zweiter Ältermann der Lotsenbrüderschaft NOK II/ Kiel/ Lübeck/ Flensburg. Damit ist er der zweite Vorsitzende jener Lotsenbrüderschaft, die sich um den östlichen Kanalteil kümmert. Früher ist der 49-Jährige als Kapitän zur See gefahren. Inzwischen hilft er gemeinsam mit 300 anderen Lotsenbrüdern dabei, die Pötte sicher durch die meistgenutzte künstliche Wasserstraße der Welt zu bringen. Unzählige Male hat Finnberg die Passage von Rüsterbergen zur Schleuse nach Kiel Holtenau in beiden Richtung schon gemacht. Er schwärmt von seiner Arbeit. Denn jeder Tag auf dem Nord-Ostsee-Kanal sei anders.
"Also, heute haben wir einen wunderschönen Sommertag und dann ist es wie eine Ausflugsfahrt hier mit dem Lotsenschiff zu fahren. Und genauso wenn Sie nachts fahren oder bei schlechtem Wetter, bei Sturm, Eis oder Nebel ist das auch wieder was anderes. Und wenn man Schifffahrt mag und ein bisschen industrieromantisch veranlagt ist, dann ist das immer wieder nett."
Industrieromantiker – die kommen schon heute an einigen Stellen des Nord-Ostsee-Kanals voll auf ihre Kosten. Doch nun heißt es für Martin Finnberg erstmal: Hinauf zum nächsten Kunden! Das in Rüsterbergen ausgelaufene orangenfarbige Lotsenschiff dreht nun bei. Backbord wartet jetzt eine steilaufragende rote Stahlwand. Über eine rund fünf Meter lange Strickleiter klettert Finnberg routiniert nach oben, dann folgt der Radioreporter.

Wie Hubschrauberfliegen im Wohnzimmer

Es ist ein knapp 150 Meter langer Fahrzeugtransporter, der gerade unterwegs ist von Bremerhaven nach St. Petersburg. Ein Mitglied der polnischen Crew leitet den Lotsen nun durch ein Gewirr von Fluren und steilen Treppen hinauf zur Brücke.
"Hier ist Kielkanal mit Hinweisen für die Schifffahrt."
In regelmäßigen Abständen gibt der sogenannte Sammelanruf wichtige Informationen für die Schiffe heraus. Zum Beispiel wo auf dem Kanal gerade Bauarbeiten stattfinden.
"Ich würde ja sagen, jedes Schifffahrtsrevier ist auf seine Weise Hubschrauberfliegen im Wohnzimmer …"
… sagt Martin Finnberg in Anlehnung an eine bekannte Metapher für die Formel Eins-Rennen in Monaco.

"Dadurch, dass wir in allen deutschen Revieren wachsende Schiffsgrößen haben – also, die Schiffe werden immer größer aber in Regel wachsen die Reviere nicht mit. Also, Fahrbahnanpassung Elbe schleppt sich Jahre hin, Kanalausbau schleppt sich schon Jahre hin. Es ist immer so, dass der Hubschrauber im Wohnzimmer immer größer wird mit dem wir fliegen. Und das macht natürlich auf der einen Seite die Arbeit immer interessanter und anspruchsvoller, bedeutet aber auch, immer, wenn irgendwas nicht funktioniert oder Sie einen technischen Ausfall haben oder irgendein kleiner Fehler gemacht wird, dass es dann immer sofort in der Zeitung landet, ne?"
Seit 1895 gibt es den Nord-Ostsee-Kanal. Von Brunsbüttel nahe der Elbmündung führt er bis nach Kiel und in die dortige Förde. Es waren insbesondere militärische Motive, mit denen Kaiser Wilhelm II. zu Ende des 19. Jahrhunderts das Prestigeprojekt vorantreiben ließ. Hauptgedanke: der deutschen Marine einen schnelleren – und vor allem sicheren – Weg von Ost- zur Nordsee bieten.
Martin Finnberg ist zweiter Ältermann der Lotsenbrüderschaft NOK II
Martin Finnberg ist zweiter Ältermann der Lotsenbrüderschaft NOK II© Johannes Kulms

Die Infrastruktur bröckelt

Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei, seit vielen Jahrzehnten wird der Kanal vor allem als Handelsweg genutzt. Die Reedereien können sich damit einen rund 460 Kilometer langen Umweg um die dänische Nordspitze Skagen sparen. Sofern die Schiffe nicht länger als 235 Meter und breiter als 32 Meter sind. Denn dann wird es eng im Nord-Ostsee-Kanal. Doch schon seit Jahren geht es oft nur noch schleppend voran auf der Wasserstraße. Was einerseits normal ist, denn mehr als 15 Stundenkilometer sind hier nicht vorgesehen. Doch zahlreiche Vorfälle an Schleusentoren oder Schiffe, die in die Kanalböschung rauschen, zeigen, wie empfindlich die Infrastruktur ist. Vor allem aber: Wie sie bröckelt. Auch Kanallotse Martin Finnberg weiß das:
"Der Nord-Ostsee-Kanal ist viele Jahre aus ganz nachvollziehbaren Gründen auf Substanz gefahren worden. Das heißt, wie jede Landstraße und Autobahn in Westdeutschland – da waren andere Projekte nach 1990 wichtiger – ist es auch dem Kanal ergangen. Und jetzt hinken wir im Prinzip dem Bedarf und dem Substanzerhalt 15 Jahre hinterher."
Dass in der Vergangenheit Versäumnisse zu finden sind, räumt auch Sönke Meesenburg ein. Er leitet beim Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Kiel-Holtenau den Fachbereich Investitionen.
"Es gab sozusagen eine deutliche Delle nach unten. Insbesondere nach 1990, also vermutlich auch mit der Wiedervereinigung und den Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, die dann eben das Geld zugewiesen bekommen haben. Dazu kommt aber auch, dass man über 20 Jahre lang Personal eingespart hat in der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung und deswegen natürlich auch Schwierigkeiten hatte, neue Maßnahmen zu entwickeln."
Tatsächlich wurde der Nord-Ostsee-Kanal bereits ab Mitte der 80er-Jahre immer weniger genutzt. Doch Mitte der 90er-Jahre gab es einen kräftigen Aufschwung, die Zahl der Schiff blieb konstant die transportierten Gütermengen wuchsen jedoch deutlich. Gingen 1990 noch knapp 62 Millionen Tonnen über den Nord-Ostsee-Kanal, erreichte die Menge im Spitzenjahr 2008 knapp 106 Millionen Tonnen transportierter Güter. Der Nord-Ostsee-Kanal boomte. Doch die bröckelnde Infrastruktur wurde immer offensichtlicher.

Der Bund will die wichtige Wasserstraße sanieren

Dann kam die weltweite Finanzkrise. Und mit ihr brachen die Raten im Containerverkehr ein. In den letzten Jahren kam auch noch das Russland-Embargo dazu. Und angesichts der zwischendurch stark gefallenen Treibstoffpreise zogen es viele Reedereien vor, lieber den Umweg um die dänische Nordspitze Skagen zu fahren und sich damit die Kanalgebühren zu sparen. Alle diese Faktoren haben dem Nord-Ostsee-Kanal zugesetzt. Doch auch die Zuverlässigkeit ist ein Faktor, der manchen Schiffseigner lieber zum Umfahren der Wasserstraße veranlasst hat. Allen voran der Zustand der Schleusen in Brunsbüttel und Kiel-Holtenau. Den Eingangstoren der Wasserstraße. Und gleichzeitig deren Achillesfersen, wie Sönke Meesenburg deutlich macht.
"Tatsächlich war es so, dass man Ende der 80er-Jahre angefangen hatte, in Brunsbüttel die kleineren Schleusen instand zu setzen. Und es wäre dann die logische Folge gewesen, danach dann auch die großen Schleusen zu reparieren und das ist dann ausgesetzt worden. Und dann ist die Schadensentwicklung so weitergegangen, dass man sich das nicht mehr erlauben konnte, eine Kammer außer Betrieb zu nehmen, um sie zu reparieren. Und das hätte bedeutet, dass die andere, die genauso schlecht ist, nur eine sehr kurze Zeit überlebt hätte. Und dann wäre der Kanal für Schiffe über 125 Meter nicht mehr passierbar gewesen."
Inzwischen scheint der Bund als Eigentümer des Nord-Ostsee-Kanals den Ernst der Lage zu begreifen. Berlin versucht nun, den Schalter umzulegen. In der letzten Legislaturperiode wurden neue Gelder und Stellen für die Schifffahrtsverwaltung bewilligt. 1,5 bis 1,8 Milliarden Euro sollen in den nächsten Jahren in die Sanierung der Wasserstraße fließen.
Fast ein Drittel davon ist für die Sanierung der Schleusen in Brunsbüttel fällig. Ähnlich wie auch in Kiel-Holtenau gibt es hier zwei große und zwei kleine Schleusenkammern.
"Also, das ist glaube ich als Bauingenieur einfach ein Leckerbissen. So eine Schleuse wird natürlich sehr selten überhaupt gebaut. Also, das sind Jahrhundertbauwerke, muss man ganz klar sagen."

Mehrere Jahre in Verzug

Joachim Abratis ist der Programmleiter für die Schleusensanierung in Brunsbüttel. Hinter seinem Rücken schließt sich gerade das mächtige Schleusentor der knapp 330 Meter langen Kammer. Einen Steinwurf entfernt liegt Europas größte Wasserbaustelle. Dort entsteht zurzeit eine fünfte Schleusenkammer. Wie ein Bypass soll sie die beiden anderen großen Schleusenkammern entlasten. Nur so ist eine Sanierung der beiden Bauwerke überhaupt möglich.
"Also, wir haben eben festgestellt, dass die vorhandene große Schleuse eben in einem derartigen baulichen Zustand ist, dass wir sehr substanziell eingreifen müssen. Das ist auch erklärlich, die ist 100 Jahre alt oder über 100 Jahre und seitdem auch in Betrieb, dass eigentlich eine Instantsetzung der Schleusenkammern unter normalen betrieblichen Bedingungen nicht möglich ist."

Doch – Großprojekt lässt grüßen – auch in Brunsbüttel geht es nur schleppend voran. Die Sanierung der Schleuse ist bereits mehrere Jahre im Verzug. Der eigentlich für 2021 geplante Fertigstellungstermin ist nicht zu halten. Joachim Abratis nennt dafür mehrere Gründe. Zum Beispiel immer wieder auftretende Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg, die zunächst geräumt werden müssen. Und nicht zuletzt die Zusammenarbeit zwischen den Baufirmen und dem Bund. Letzterer ist Bauherr in Brunsbüttel und musste den Vertrag wegen des Baugrunds ändern, sagt Abratis.
"Also, wo es ganz genau am Ende rausgeht, das wollen wir jetzt zum Ende des Jahres auch mit der Baufirma klären. Da sind wir jetzt in einem intensiven Dialogprozess muss ich sagen. Insofern sind wir derzeit dabei, auch ganz bewusst Wasserstände miteinander auszuloten."
Joachim Abratis kümmert sich in Brunsbüttel um den Schleusenbau.
Joachim Abratis kümmert sich in Brunsbüttel um den Schleusenbau.© Johannes Kulms

Die Kosten steigen weiter

Abratis‘ Antwort klingt wie ein nasser technisch-diplomatischer Spießrutenlauf:
"Fakt ist sicherlich, dass wenn man sich die Bausummen, die bisher abgeflossen sind, auch anguckt, wir definitiv zwei Jahre hinter dem ursprünglichen Bausoll liegen. Aber wir haben noch einige Aufgaben vor uns - sozusagen zu meistern. Es wird länger dauern, das kann ich jetzt schon deutlich sagen. Und Fakt ist natürlich auch: Die ein oder andere Maßnahme, die sich sozusagen verzögert hat und auch gewisse Veränderungen im Bauablauf und auch natürlich die längere Bauzeit führt natürlich auch zu Kostensteigerungen."
Das Risiko, das es in den nächsten Jahren wieder zu Pannen an der Schleuse in Brunsbüttel kommt, sinkt angesichts dieser Verzögerungen freilich nicht. Für Werner von Unruh zeigt das jahrelange Hin- und Her an den Schleusen aber auch am gesamten Nord-Ostsee-Kanal eines: Wenn der Staat bei der Pflege und Sanierung von wichtiger Infrastruktur die Verantwortung an die Privatwirtschaft überträgt, führt das nicht immer zum Erfolg.
"Insbesondere, dass also die Verfügbarkeit der Mitarbeiter und Gerätschaften vor Ort ein ganz wichtiger Punkt ist, der also mit beobachtet werden soll. Also, dass nicht von vornherein die öffentlich-rechtlichen Aufgaben in einer Weise privatisiert werden, dass dann letzten Endes die Aufgabe der öffentlichen Hand nicht mehr wahrgenommen werden kann."
Werner von Unruh ist früher als Kapitän zur See gefahren. Danach sattelte er auf Jura um und ist seit vielen Jahren Dozent im Fachbereich Seefahrt an der niedersächsischen Jade-Hochschule. Doch Werner von Unruh ist auch Anrainer: Seit knapp 20 Jahren wohnt er direkt am Nord-Ostsee-Kanal. Von seiner Gartenterrasse aus kann er direkt den vorbeifahrenden Schiffen zuschauen, die sich nur wenige hundert Meter weiter in Kiel-Holtenau in die Schleusenkammern einfädeln.

Der Kanal wird breiter, doch die alten Brücken bleiben

Erst Ende Februar kam es auch in Holtenau zu einer Kollision: Ein Containerschiff rauschte nach einem Maschinenausfall direkt ins Schleusentor. Die Reparatur dauerte viele Wochen, es kam zu Verzögerungen bei der Schleusung der Schiffe. Auch die Kieler Schleusen sollen in den nächsten Jahren überholt werden. Sönke Meesenburg wird all dies beobachten können, denn sein Büro im bundeseigenen Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt liegt direkt auf der Holtenauer Schleuseninsel. Meesenburg scheint sich nach dem Moment zu sehnen, an dem alle Maßnahmen durch sind. Denn dann könne er sagen:
"Jetzt haben wir wieder einen Zeitstrahl vor uns, wo wir wieder den Nord-Ostsee-Kanal als betriebssicher ansehen können."
Doch nicht nur die Schleusen des Kanals werden saniert. Auf insgesamt zwölf Kilometern soll das Ufer auf der sogenannten Oststrecke verbreitert werden. Bisher gleicht der Kanal zwischen Königsförde und Holtenau eher einem Flaschenhals. Zudem wird die historische Levensauer Hochbrücke in der Nähe von Kiel gegen ein neues Bauwerk ausgetauscht. Mit ihrem markanten roten Bogen und ihren 120 Jahren ist sie die älteste Brücke des Kanals.
Wenn alle Maßnahmen abgeschlossen sind, könnten theoretisch sogar Schiffe mit bis zu 280 Metern Länge den Kanal nutzen. Doch das sei in der Praxis nur schwer denkbar, weil gleichzeitig die zehn Hochbrücken über den Kanal nicht angepasst würden sagt Meesenburg.
Insgesamt werde der Schiffsverkehr aber nach der Sanierung sicherer und flüssiger über den Kanal gehen. Im letzten Jahr ist Zahl der über den Nord-Ostsee-Kanal transportierten Güter wieder leicht gestiegen. 2017 waren es knapp 87.000.000 Tonnen, etwa 3,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Dies könnte auch auf die zuletzt gestiegenen Treibstoffpreise zurückzuführen sein, die den Umweg um das dänische Skagen herum teurer machen. Die Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt gibt sich vorsichtig optimistisch. Wobei Jörg Heinrich, Leiter der Unterabteilung Seeschifffahrt auch klarstellt:
"Der Kanal wird sich nie tragen unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Das heißt, ich kann ihn nicht wie ein Unternehmen führen und mit den Einnahmen die Kosten, die er verursacht – die werde ich aus ihm nicht herauspressen können. Dann kann ich ihn gleich zumachen."
Mehr zum Thema