Semer Ensemble: "Rescued Treasure"

Arche Noah jiddischer Musik

Orthodoxe Juden beim Tanz 2014 während des Simchat Tora in Israel
Tanzen zu jüdischer Musik: orthodoxe Juden in Israel © picture alliance / dpa / Abir Sultan
Von Luigi Lauer · 24.06.2016
1932 gründet Hirsch Lewin in Berlin ein Plattenlabel für jüdische Musiker. "Semer" existiert bis 1938: In der Pogromnacht wird der gesamte Bestand zerstört. Jetzt erfährt die verschollen gegangen Musik eine Wiederbelebung.
"Don't judge a book by the cover", sagt man im Englischen – man soll ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen. Bei dem Album "Rescued Treasure", Geretteter Schatz, ist das anders. Das Coverdesign, mit Einflüssen aus Bauhaus und Art Deco, spiegele das Lebensgefühl einer Ära wieder, sagt Bandleader Alan Bern.
"Ich glaube, man sieht sofort diese Zeit, wenn man diese Grafik sieht. Das ist irgendwie ein Zeichen von entspanntem jüdischen Leben damals. Also nicht mehr in den 30er-Jahren natürlich, aber vorher in den 20ern."
Viele Juden glaubten nicht, dass die Nazis tatsächlich an die Macht kommen würden. Hirsch Lewin aus Vilnius, nach dem Ersten Weltkrieg als Zwangsarbeiter nach Berlin verschleppt, gründete noch 1932 die Plattenfirma Selmer und begann, Bands aufzunehmen und die Schellackplatten in seiner Buchhandlung im Berliner Scheunenviertel zu verkaufen.

Arien, jiddische Musik und treudeutsche Schlager

"Die Musik auf dieser CD wurde zwar in den 30er-Jahren aufgenommen. Aber man sollte überhaupt nicht den Eindruck haben, dass das eine gute Zeit war für jüdische Musik. Nach dem Berufsverbot von den Nazis durften jüdische Musiker überhaupt nicht mehr auftreten vor nicht-jüdischem Publikum. Das Semer-Label und der Kulturbund und ein paar jüdische Einrichtungen haben gesagt, okay, dann machen wir halt eine letzte Plattform für jüdische Künstler auf. Ich nenne das immer so eine Art Arche Noah. Wichtig ist auch, dass nicht alles auf dieser CD jüdische Musik ist. Es ist nämlich Musik, die gespielt wurde von jüdischen Künstlern."
Und die spielten, was die Menschen hören wollten: jiddische Musik oder Kantorales auf jüdischen Veranstaltungen aber auch Opernarien und Kunstlieder bis hin zum, etwas überspitzt, treudeutschen Schlager.
"Nee, das ist gar nicht überspitzt. Hier haben wir einen Titel zum Beispiel, 'Im Gasthof zur goldenen Schnecke', das ist ein Gassenhauer auf deutsch. Und kein Mensch wäre auf die Idee gekommen zu denken, das hat irgendetwas mit jüdisch zu tun."

Elf Jahre akribische Recherche

Das Rad ins Rollen brachte Rainer Lotz, eigentlich ein Entwicklungshilfe-Ökonom, aber auch ein international anerkannter Musikhistoriker und Diskograf. In etlichen Jahren akribischer Recherche konnte er fast alle Schellackplatten aus dem Semer-Katalog wieder zusammenstellen. Daraufhin erteilte das Jüdische Museum Berlin Alan Bern 2012 den Auftrag, diese Musik wiederzubeleben – die Geburt des Semer-Ensembles.
"Ich bin mit den anderen Musikern einfach in dieses Repertoire eingetaucht und erst danach haben wir uns kennengelernt, vor einem Jahr. Und da habe ich auch seine Geschichten gehört, wie er diese Originalaufnahmen wiedergefunden hat. Und das ist unglaublich, wirklich, also man könnte ihm stundenlang zuhören, wie er das ausgegraben hat."
Alan Bern, Jahrgang 1955, ist Bandleader der Gruppe Brave Old World, eine der wichtigsten Gruppen des Klezmer-Revivals der 1990er-Jahre und Programmchef des Yiddish Summer Weimar – mithin ein Experte für jiddische Musik. Aber Bern ist auch deswegen eine gute Wahl für die Leitung des Semer-Ensembles, weil er nicht nur einen musikhistorischen Ansatz verfolgt, sondern die Arbeit sehr persönlich nimmt.
"Weil ich gewusst habe, was das Schicksal war von den meisten von diesen Menschen, war ich sehr neugierig, was die Personen an sich betrifft. Und ich hatte das Gefühl, dass sie neben mir an einem Stuhl neben meinem Klavierhocker gesessen haben, dass ich diese Menschen kennengelernt habe und dass sie ihre Geheimnisse in mein Ohr zugeflüstert haben."
Dann sei auch hier ein Geheimnis geflüstert: "Rescued Treasure" ist erst der Anfang. Am zweiten Album wird bereits gearbeitet. Weitersagen.
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