Sachbuch

Wie Tolkien zur Fantasy kam

Der britische Schriftsteller J. R. R. Tolkien (undatierte Aufnahme).
Der britische Schriftsteller J. R. R. Tolkien (undatierte Aufnahme). © picture alliance / dpa / epa afp
Von Elena Gorgis · 25.03.2014
Die traumatischen Erfahrungen als britischer Offizier im Ersten Weltkrieg haben Tolkiens Mythologie geprägt, weist John Garth nach. Statt in Ironie und Zynismus flüchtete er sich altnordische Sagen und Sprachen - und ins eigene Schreiben.
Als John Ronald Reuel Tolkien 1954 und 1955 seinen Roman "Der Herr der Ringe" veröffentlichte, sahen viele darin eine literarische Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Doch der Autor selbst wies darauf hin, dass, wenn überhaupt, nicht der Zweite, sondern der Erste Weltkrieg prägend für das Werk gewesen sei, und tatsächlich hatte Tolkien als britischer Offizier an der Schlacht an der Somme teilgenommen.
Wie kommt es jedoch, dass ein junger Mann mitten im "Großen Krieg“ – und inmitten einer Zeit ungeheurer gesellschaftlicher Umbrüche – mit der Arbeit an einem altertümlichen, vorchristlichen Mythos beginnt, der die moderne Fantasy-Literatur begründen wird? Der britische Journalist und Autor John Garth hat sich in seinem Buch "Tolkien und der Erste Weltkrieg“ – Untertitel: "Das Tor zu Mittelerde“ – auf die Suche nach Antworten auf diese Frage gemacht.
Garth beginnt seine biografisch organsierte Studie in der Jugendzeit des Schriftstellers. Bereits als Schüler interessiert Tolkien sich nicht wie andere für die griechische und römische Antike, sondern für altnordische Sagen und Sprachen. An der Universität begeistert er sich dann für vergleichende Sprachwissenschaft und beginnt die Kunstsprache Quenya zu entwerfen, an der er sein ganzes Leben lang arbeiteten wird – und die die Grundmauern seiner Mythologie bildet.
Aus Lebensträumen gerissene junge Männer
John Garth stützt sich besonders auf die Briefe, die sich Tolkien und seine engsten Schul- und Studienfreunden gegenseitig schreiben. Diese Clique von geistreichen, äußerst talentierten und gewitzten jungen Männern steht bei Garth stellvertretend für die Tragödie der damaligen englischen Elite: junge Männer, die aus ihren Studien, ihren ersten Lyrikversuchen und ihren Lebensträumen gerissen und in den "Großen Krieg“ geschickt werden, wo sie an der Somme für "ein paar Morgen Schlamm“ sinnlos geopfert werden.
Anders als seine Schriftstellerkollegen hat sich Tolkien nach den traumatischen Kriegserfahrungen nicht in Ironie und Zynismus geflüchtet und mit allem bisher Dagewesenen gebrochen. Ganz im Gegenteil, so Garth: Dem Tod nur knapp entronnen, hat sich Tolkien umso intensiver seiner Leidenschaft für altnordische Sagen und Sprachen gewidmet – sowie dem eigenen Schreiben.
Tolkien selbst blieb stets skeptisch, wenn es darum ging, Verbindungen zwischen dem Werk eines Autors und seinem Leben zu suchen. John Garth hat sich davon nicht abschrecken lassen. So detailliert wie wohl noch keiner vor ihm, analysiert er Tolkiens weniger bekannte frühe Lyrik und Prosa, besonders das "Buch der Verschollenen Geschichten", den Vorläufer des "Silmarillions". Anhand zahlreicher Quellen gelingt es Garth, viele Parallelen zwischen Tolkiens Kriegserfahrungen und seinem Werk aufzuzeigen. Zum Beispiel habe Tolkien an der Front eine besonders enge Verbundenheit mit den einfachen Soldaten empfunden, die er als Offizier aber herumkommandieren musste und mit denen er sich – aufgrund der militärischen Hierarchie – nicht anfreunden durfte. Hierin sieht Garth die Ursprünge dafür, dass es in Tolkiens Erzählungen meist die Schwachen und Unbekannten sind, die bei großen Umschwüngen den Ausschlag geben und nicht die Großen und Mächtigen – wie zum Beispiel Frodos treuer Hobbit-Gefährte Samwise Gamgee in "Der Herr der Ringe".
Durchdrungen von tiefer Melancholie
Das Ergebnis: Tolkiens Mythologie ist eine von vielen verschiedenen literarischen Reaktionen auf das Trauma des Ersten Weltkrieges. Mittelerde ist nicht nur das Produkt eines genialen, geschichtsverliebten Philologie-Professors, der fast vergessene Volksmythen in seinen Erzählungen wiederaufleben lässt. Tolkiens Welt ist vor allem eben auch durchdrungen von einem erschütternden Realismus, von den leidvollen Lebenserfahrungen und der tiefen Melancholie eines jungen Mannes, der fast alle seine Freunde im Krieg verlor.
Der sinnlose Kampf von Fußsoldaten, die in den Maschinengewehr-Kugelhagel rennen mussten, der Kampf menschlicher Kräfte gegen Maschinen, die Einführung des Panzers an der Somme, all das hinterließ in Tolkien eine lebenslange Abneigung gegen moderne Maschinen und Technik, die sich in vielen seiner Geschichten wiederfindet. Und zwar immer dann, wenn seine erfunden Wesen die Grenze von mythischer Monstrosität zur Maschine überschreiten, wie etwa die Bronzedrachen, die die Stadt Gondolin in Tolkiens früher Erzählung "Der Fall von Gondolin" zerstören. Damit ermöglicht dieses Buch einen völlig neuen Blick auf Tolkien – und es zeigt deutlich, warum seine Fantasie-Welt mitnichten aus der Zeit gefallen ist.

John Garth: Tolkien und der erste Weltkrieg. Das Tor zu Mittelerde
Aus dem Englischen von Birgit Herden und Marcel Aubron-Bülles
Klett-Cotta, Stuttgart 2014
464 Seiten, 22,95 Euro

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