Sachbuch

Mit Zahlen zum besseren Menschen

Von Pieke Biermann · 11.03.2014
Daniel Tammet ist Autist mit einer "Inselbegabung" für Mathematik. In seinem dritten Buch "Die Poesie der Primzahlen" zeigt der britische Autor, wie viel Zahlen mit unserem Innenleben zu tun haben. Ihm selbst haben sie geholfen, seinen Radius zu erweitern.
Lange Zeit waren Savants, Autisten mit einer "Inselbegabung", nur Objekt wissenschaftlicher Begierden. Die amüsiert-gerührte Neugier von Normalbegabten erregten sie erst in den 80er-Jahren durch Oliver Sacks' "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" und Barry Levinsons "Rain Man". Populärer wurden sie ab 2005, als die TV-Serie "Numbers" ein mathematisches Superhirn mit den typischen weißen Flecken auf der emotionalen Landkarte als sexy (männlich) Rätsellöser für die heile Law-and-Order-Welt rekrutierte. Und seit Stieg Larssons Lisbeth Salander ist Autismus zum Glamourfaktor mutiert: genialisch-unheimlich plus sexy (weiblich) gleich Bestseller.
Daniel Tammet ist Savant. Bestsellen tut er auch, und nicht etwa, weil er 2004 in Oxford fünf Stunden lang die ersten 22.514 Nachkommastellen der Kreiszahl π [Pi] korrekt aufgezählt hat und blitzschnell Fremdsprachen lernt. Sondern weil seine Bücher "Elf ist freundlich und fünf ist laut" (2006) und "Wolkenspringer" (2009) sowohl der verblüfften Fachwelt elegant den gönnerhaften Objektblick verstellt als auch den lesenden Laien ein allseits-entfaltetes Subjekt nahegebracht haben.
"Zahlen machen uns zu besseren Menschen"
In seinem neuen Buch "Die Poesie der Primzahlen" radikalisiert Tammet die Sache noch einmal. Ganz britisch (selbst-)ironisch führt er vor, wie viele vermeintlich un-autistische "Inseln" ein Savant bewohnen kann und wie arm unsere Definitionsmanie ist. Gerade in Zahlen, schreibt er, steckt viel Wissen über unser Innenleben, denn bei mathematischer Imagination geht es um Mögliches, Denkbares, eine Art ständiges "What if?" – wie bei künstlerischer Fiktion auch, zum Beispiel literarischer: "Genau wie Werke der Dichtung können uns mathematische Ideen eine Hilfe dabei sein, unsere Empathie zu erweitern und uns von der Tyrannei eines einzigen, eingeschränkten Blickpunkts zu befreien. Zahlen machen uns, richtig betrachtet, einfach zu besseren Menschen."
Was Tammet an Beispielen auffächert, läuft so quer zu allen Klischees, die wir zum angeblichen Ordnen der Welt gelernt haben, dass man sich ständig die Augen reibt. Die Gemeinsamkeiten von Zahlen und Sprache, Shakespeares Null-Erlebnis, die Primzahl-Schönheit von Sestinen und Haikus, die vertrackte isländische Art zu zählen, mütterliche Unausrechenbarkeit, Geld und die fatale Bindung von konkreten Dingen an abstrakte Zahlen – alles ist kognitiver Stoff für einen früh synästhetisch geschalteten Geist, der sich über die Erotik der Zahlen und das Faszinosum der Unendlichkeit später sogar Zugang zu Emotion, Berührung, Körperlichkeit erobert.
Tammet verzaubert
Autobiografisch geerdet, politisch klar - zum Beispiel über Armut und deren Folgen für Denken, Lernen, Leben -, voller schöner schillernder Sätze, etwa zur die angeblich klassenlosen Sowjetunion: "Unter den schlammbraunen, steif gestärkten Uniformen trugen die Herrscher im Kreml derweil die Kleider des massakrierten Kaisers weiter."
Allen Zahlen wohnt ein Zauber inne, seufzt man: Wie viel man doch verpasst als mathematische Null! Aber Tammet lässt einem keine Chance für selbstmitleidigen Frust – er verzaubert einen einfach.

Daniel Tammet: Die Poesie der Primzahlen
Aus dem Englischen von Dagmar Mallett
Hanser Verlag, München 2014
317 Seiten, 19,90 Euro

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