Sachbuch

Finale Blutgrätsche für die FIFA

Endspielball der 1. Fußballweltmeisterschaft aus dem Jahr 1930 in Uruguay
Endspielball der 1. Fußballweltmeisterschaft aus dem Jahr 1930 in Uruguay. © picture alliance / dpa / dpaweb / Oliver Weiken
Von Pieke Biermann · 16.06.2014
Flott wie Pelés Strafraumkurven liest sich Klaus Zeyringers Kulturgeschichte des Fußballs von den britisch-adligen Anfängen bis heute. Dazu gehört viel Unappetitliches und der Autor belegt: Das Wiegenlied vom "unpolitischen Sport" hat noch nie gestimmt.
Trörö! Vier Jahre sind um. Auch feuilletonnotorische Geister (Dichter, Denker, Deuter) laufen wieder zu Hochform auf und graben mit Zeitungsbeilagen und ganzen Büchern nach dem kulturellen Mehrwert des Fußballspiels. Als sei kindliche Freude am Spiel bloß kindisch und ein Nachweis intellektueller Inferiorität. Das "jogo" mag so "bonito" sein, wie es will, der hiesige Kulturmensch muss sich ein wenig abgrenzen vom gemeinen "zwölften Mann" – der ausweislich eigens erzeugter Bilderfluten heute verschärft weiblich ist.
Für den gemeinen Fan reiche: Das Runde muss ins Eckige, das Spiel dauert mindestens 90 Minuten, der Ball ist rund und entscheidend is auf'm Platz, so schmunzelt der Feuilletonist. Aber mit etwas Glück macht er sich danach an gute Recherchen und kluge Gedanken, zum Beispiel über entschieden Unappetitliches, das über Platz und 90'-plus weit hinausweist. So erfuhren wir 2010 etwas mehr über die Verhältnisse in Afrika und all die in Europa gestrandeten Jungs hinter den dunkelhäutigen Genies unserer Top-Ligen.
Geld plus Politik gleich Korruption
Und weil allzu dreist unter Eventbombast begrabene böse Wahrheiten pünktlich zum nächsten Event wieder hochploppen, sind wir dieses Jahr ungewöhnlich breit informiert über Brasilien: Wie es derzeit von brutalen Dynamiken zerrissen wird, nicht zuletzt weil die WM dorthin verlegt wurde. Denn "auf'm Platz", sobald der globale Bedeutung hat, ist immer auch entscheidend: Geld plus Politik gleich Korruption und geplünderte Steuerkassen. Zu Lasten des gemeinen Fans (allerlei Geschlechts) und geschützt durch den "catenaccio" aus neuer Mediengier und feudalem Verbandsgebaren.
Soweit die unschöne Seite der Kulturgeschichte des Fußballs, Klaus Zeyringer nennt sie "Neudalismus" und zeichnet sie nach von den britisch-akademisch-adligen Anfängen bis heute.
Und trotzdem hat sich "das Spiel" genau die Mischung aus unschuldiger Lust und schicksalsschwerem "drama, baby!" bewahrt, die jedes über Generationen und Grenzen hinweg funktionierende"narrative" braucht. Bis heute jedenfalls und bis auf wenige Ausnahmen, die ihrerseits Skandallegenden wurden. Deshalb ist Fußball Rohstoff für Kreative aller Art. Deshalb wird er Teil ihrer Kulturen und wirken dieselben auf ihn zurück.
Brasilien stellt die FIFA vom Platz
Zeyringer eröffnet mit Schostakowitsch im stalinistischen Leningrad, als Fußballspieler zum Lob des Kollektivs nicht einzeln erwähnt werden durften, und bringt dann Dutzende schreibender, filmender, bildender Künstler – Camus, Canetti, Peter Esterházy, Fassbinder, Giraudoux, Handke, Kafka, Horváth, Nick Hornby, um nur einige zu nennen. Er belegt, dass das Wiegenlied vom "unpolitischen Sport" noch nie gestimmt hat, anhand zahlloser Beispiele – von Stalin, Hitler, Mao über lateinamerikanische Juntas bis zu zeitgenössischen Autokratien.
Sein Buch ohne bremsende Fußnoten liest sich flott wie Pelés Strafraumkurven anno 1970. Ein Spaß für Fans und alle, die auf die finale Blutgrätsche hoffen: Brasilien stellt die FIFA so vom Platz, dass sie es nicht mal mehr zur eigenen Kat(h)arsis schafft.

Klaus Zeyringer: Fußball. Eine Kulturgeschichte
S. Fischer Verlag (Wissenschaft), Frankfurt am Main 2014
448 Seiten, 22,99 Euro

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