Sachbuch "Fasse dich kurz!"

Telefonkultur in der DDR

Blick in eine Telefonzentrale der Stasi
Eine Telefonzentrale der Stasi © picture alliance/dpa/ADN
Von Martin Ahrends · 07.03.2015
Es gab nur wenige private Anschlüsse in der DDR, andererseits brauchte die Stasi Telefonverkehr, um die Opposition überwachen zu können. Ilko-Sascha Kowalczuk und Arno Polzin analysieren in "Fasse dich kurz!" aufschlussreich die DDR-Telefonie in den 80er-Jahren.
Nach dem Mauerbau lebte man sich unweigerlich auseinander in Deutschland Ost und West, trotz der Besuche, die immerhin in eine Richtung möglich wurden. In den getrennten Familien suchte man lieber Verbindendes, worüber man reden konnte ohne sich misszuverstehen. Und missverstand sich gerade dann, wenn vertraute Worte etwas bezeichneten, das in einem zunehmend fremden Lebenszusammenhang stand. Eine Firma sei doch eine Firma in Ost wie West, konnte man glauben, eine Partei eine Partei, eine Zeitung eine Zeitung. Doch weit gefehlt! Und nun erst das Telefon. Im Westen etwas ganz Normales, in der DDR ein Widerspruch in sich selbst, ein Unding an und für sich.
Telefonie war nicht systemkonform
In der DDR musste eine illegitime Regierung, die ihr Volk nur durch eine Mauer beisammen halten konnte, allem misstrauen, was außer ihrer Kontrolle geredet, geplant und unternommen wurde. Die Telefonie als eine Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation war nicht systemkonform, das Telefon stand im Widerspruch zum Überwachungsstaat, es sei denn, es diente selbst als Mittel der Überwachung. Und so sah die Telefonlandschaft der DDR in ihrem vierzigsten und letzten Jahre auch aus: Nur eine politisch gewollte Minderheit verfügte über einen privaten Anschluss, die öffentlichen Fernsprecher waren oft defekt oder umlagert, das alte Schild: "Fasse dich kurz, nimm Rücksicht auf Wartende" behielt bis zum Ende der DDR seinen Platz und seine Gültigkeit.
Wie wenig selbst westdeutsche Medienleute von den Verhältnissen in der DDR wussten, zeigen die Autoren des Buches an einem trefflichen Beispiel: Das Meinungsforschungsinstitut Infas veranstaltete eine grenzüberschreitende Telefonumfrage zum "politischen Stimmungsbild der Bevölkerung der DDR", die im Westen dann tatsächlich ernst genommen wurde. Das Ergebnis: 53 Prozent aller Befragten gaben an, sie seien mit der DDR-Politik eher zufrieden.
"Der Infas-Experte schlussfolgerte, dass sich ein 'gespaltenes Bild' ergebe, 'ein ähnlich gespaltenes Bild wie wir das in Westdeutschland auch haben, wenn man mit der Regierung unzufrieden ist'. Der SFB-Chefredakteur Jürgen Engert kommentierte im ARD-Politmagazin 'Kontraste': 'Bei einer solchen Mentalität braucht Erich Honecker keine schlaflosen Nächte zu bekommen, Rebellion hat er von seinen Bürgern nicht zu gewärtigen.'"
Telefonsituation für den Westen schwer zu durchschauen
Das war im April 1989. Wer im Nachbarland DDR überhaupt telefonisch erreichbar war, wer auf Fragen von Westjournalisten überhaupt antwortete und wenn, wie befangen oder kalkuliert antwortete, das unterlag Bedingungen, die vom Westen aus auch ein halbes Jahr vor dem Mauerfall kaum nachzuvollziehen waren. In ihrem Buch bieten die Autoren eine umfängliche und differenzierte Nachlieferung dessen, was nicht nur vom Westen aus schwer zu durchschauen war.
Das Buch ist eine Nahaufnahme von politischen und menschlichen Komplikationen der Telefonie in den Zeiten des real existierenden Sozialismus. Auf nahezu tausend Seiten ist es eine von hoch kompetenten Essays begleitete Materialsammlung, die gut daran tut, sich – pars pro toto – auf einen bestimmten Zeitraum und bestimmte Akteure zu beschränken. Der Band schließt ein Forschungsprojekt ab, das vor neun Jahren begann und…
"… das sich erstens auf die Endphase der SED-Diktatur 1985 bis 1989 konzentrierte, das zweitens einen überschaubaren und für uns ansprechbaren Personenkreis umfasste und das drittens regional begrenzt blieb und zugleich den grenzüberschreitenden Telefonverkehr einschloss. Das Forschungsprojekt wurde so auf die Ostberliner Opposition und den grenzüberschreitenden Telefonverkehr mit Unterstützern und politischen Weggefährten fokussiert."
Diese Beschränkung ist schlüssig, weil sich die innere Widersprüchlichkeit der DDR-Telefonkultur hier exemplarisch offenbart: Um die Opposition überwachen zu können, brauchte die Stasi einen Telefonverkehr, den sie andererseits am liebsten ganz unterbunden hätte. Die Stasi sammelte Stimmproben und versuchte, sie zu imitieren, um ihre "Feinde" am Telefon zu täuschen. Die Oppositionellen verhielten sich konspirativ am Telefon, benutzen ihre eigenen Codes, zuletzt drehten sie den Spieß um und nutzten die "ungesetzliche Verbindungsaufnahme" zu den Westmedien für ihre eigene Absicherung: eben weil sie davon ausgehen konnten, dass die Stasi mithört.
Als mich Freya Klier im Sommer 1987 in meinem Hamburger "ZEIT"-Büro anrief, war ich zunächst schockiert, wie frei sie über die Verfolgung und Drangsalierung durch die Stasi berichtete. Da ahnte ich nicht, dass sich die Botschaft nicht nur an mich, sondern auch an die "aufgeschalteten" Mithörer richtete. Wer in den Westmedien Anker geschlagen hatte, den konnte man nicht eben mal verschwinden lassen. Bei dieser Gelegenheit hörte ich zum ersten Mal das Wort "Fernrottung", ein Stasiwort für die fernmündliche Zusammenrottung, das mir damals einen Schauer über den Rücken jagte und im Glossar des Bandes leider fehlt.
Die Stasi geriet zuweilen in Argumentationsnöte
Einen aufgespürten Fall von "feindlicher Verbindungsaufnahme" mussten die Lauscher sogar vor sich selbst vertuschen, weil dessen Aufdeckung politisch inopportun gewesen wäre.
"Nachdem zum Beispiel am 7. Juni 1989 Ulrike Poppe ein Telefoninterview zu den Vorgängen in China und den Reaktionen der ostdeutschen Opposition darauf gegeben hatte, hielten Stasi-Juristen fest, dass es sich dabei 'objektiv' um Verstöße gegen die § 219 ('ungesetzliche Verbindungsaufnahme') und § 220 ('öffentliche Herabwürdigung') handele. Dafür drohte eine Haftstrafe."
Doch die Stasi-Juristen stellten wider besseres Wissen fest, es lägen keine Beweise dafür vor, …
"'… dass es sich bei den Gesprächspartnern tatsächlich um Ulrike Poppe und eine Mitarbeiterin eines ausländischen Rundfunksender handelt, was sich auch aus dem vorliegenden Wortlaut des Interviews nicht ableiten lässt.' Diese formaljuristische Einschätzung ist gleich in mehrfacher Hinsicht kurios. Denn das Interview führte Ulrike Poppe unter Nennung ihres Namens. Und dass es sich um einen 'ausländischen Rundfunksender' handelte, wird allein an dem Umstand deutlich, dass Ulrike Poppe interviewt wurde und sie Dinge sagen konnte, die von DDR-Rundfunksendern nie hätten ausgestrahlt werden dürfen. Dies alles wussten natürlich die Stasi-Juristen."
Aber es war zu diesem Zeitpunkt nicht opportun, eine Person wie Ulrike Poppe festzunehmen oder juristisch zu belangen. Die Einschätzung des MfS zu dem Telefoninterview belegt exemplarisch, in welche Argumentationsnöte man dort geriet, wenn man die eigenen Erkenntnisse verleugnen, also gegen sich selbst arbeiten musste.
So vertrackt und verzwickt war das alles. Wen wundert’s, wenn erst im Rückblick Motive und Kausalitäten aller damals Beteiligten einigermaßen durchschaubar werden. Die Telefone, die der Staat den Kirchen – auch aus Überwachungsgründen – zugestanden hatte, wurden zu "Kontakttelefonen" der Oppositionellen, mit denen sie sich vernetzen konnten, was aber nicht nur von der Stasi, sondern auch von vielen Kirchenleuten als Missbrauch angesehen wurde. Die internen Auseinandersetzungen, die darum unter Oppositionellen, unter Kirchenleuten und innerhalb der staatlichen Machtorgane geführt wurden, sind auch unter psychologischen und ethischen Aspekten hoch interessant. Nicht nur für Historiker, sondern zum Beispiel auch für Schriftsteller stellt dieses Konvolut eine wertvolle Vorarbeit und Fundgrube zu den Seelenlagen der DDR-Endzeit dar.

Ilko-Sascha Kowalczuk, Arno Polzin (Hrg.): "Fasse dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit"
Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2014
1066 Seiten, 69,99 Euro

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