Sachbuch-Bestseller: "Tagebuch der Menschheit"

Unsere Probleme sind schon Tausende Jahre alt

Adam und Eva auf einem Bild im Bréviaire Grimani
Adam und Eva auf einem Bild im Bréviaire Grimani vom Anfang des 16. Jahrhunderts © Imago
Kolja Mensing · 06.10.2016
Carel van Schaik und Kai Michel lesen die Heilige Schrift nicht als Wort Gottes und moralisches Lehrstück, sondern als Tagebuch der Menschheit – und zeigen, dass es unter den intelligentesten Bewohnern der Erde schon sehr lange hoch hergeht.
Die Geschichte ist bekannt. Adam probiert eine Frucht, die Eva vom Baum der Erkenntnis gepflückt hat, und Gott schickt ihn dafür auf den Acker: "Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und Du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst Du dein Brot essen". Lebenslange Zwangsarbeit für Mundraub? Theologen bemühen sich seit zweitausend Jahren, eine Erklärung dafür zu finden, vom Konzept der "Erbsünde" bis hin zur Vorstellung, dass die ersten Menschen für ihre Anmaßung bestraft wurden, wie Gott sein zu wollen.
Der Anthropologe Carel van Schaik und der Wissenschaftsjournalist Kai Michel schlagen in ihrem Sachbuch-Bestseller "Das Tagebuch der Menschheit" eine andere Lesart vor. Für sie ist die Geschichte von Adam und Eva kein moralisches Lehrstück, sondern das "ferne Echo" eines der vielleicht wichtigsten Schritte in der kulturellen Entwicklung der Menschheit: Vor etwa 12.000 Jahren wurden die Menschen sesshaft, aus Jägern und Sammlern wurden Viehzüchter und Ackerbauern – und damit kam nicht nur die "Mühsal agrarischer Nahrungsproduktion" über sie, sondern auch die Idee, das man Land besitzen kann. Van Schaik und Michel bezeichnen die damit verbundene Erfindung des Eigentums als die "folgenreichste Konsequenz des Sesshaftwerdens" – und für sie ist es darum nur konsequent, dass am Anfang der Bibel die Geschichte vom widerrechtlich angeeigneten Obst steht. Meins und deins: Das ist der eigentliche Sündenfall der Menschheit.

Spuren der neolithischen Revolution

Das ist nur der Anfang: "Das Tagebuch der Menschheit" liefert auf gut 500 Seiten nicht nur eine evolutionäre Lesart der Schöpfungsgeschichte, sondern der gesamten Bibel. Die beiden Autoren führen mit leichter Hand anthropologische und evolutionswissenschaftliche Forschungsergebnisse mit den Texten der Bibel zusammen – und entdecken in den endlosen Katalogen mit Reinlichkeitsvorschriften, in ausufernden Familienstreitereien oder den dynastischen Umbrüchen im "Buch der Könige" Spuren der neolithischen Revolution: Neue Krankheitskeime verlangen bessere Hygiene, Landbesitzer müssen ihr Erbe regeln, große, anonyme Gesellschaften erfordern neue politische Strukturen.
All das sind Probleme, die uns bis heute beschäftigen, unter Stichwörtern wie "globale Epidemien", "ungleiche Güterverteilung" oder "Ende des Nationalstaats". Kein Wunder also, dass dieses Sachbuch so viel Erfolg hat: Carel van Schaik und Kai Michel zeigen gewissermaßen zwischen den Zeilen auf, dass viele scheinbar aktuelle Missstände ein "Erbe der Evolution" sind – und dass die Menschheit sich schon vor knapp 3000 Jahren - als die ersten Geschichten des Alten Testamens verschriftlicht wurden - damit herumgeschlagen hat. Die aufgeheizten Diskussionen der Gegenwart bekommen durch dieses Buch eine historische, besser gesagt: anthropologische Tiefendimension – und das hat auch ein beruhigende Wirkung. Ganz so dringend scheint es mit den Lösungen der Menschheitsprobleme doch nicht zu sein.

Carel van Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2016
576 Seiten, 24,95 Euro

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