Sachbuch

An den Straßen standen Galgen

Eine Büste des Dichters Johann Wolfgang von Goethe
Eine Büste des Dichters Johann Wolfgang von Goethe © dpa / picture alliance / Uwe Zucchi
Von Helmut Böttiger · 04.03.2015
Bruno Preisendörfer nimmt den Leser in seinem Buch "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" mit auf eine Reise in die Goethezeit. Er schreibt so anschaulich, dass man ganz genau fühlt, wie es damals gewesen sein muss - nämlich dreckig uns ganz schön gruselig.
Natürlich hat man in Deutschland sehr erhabene und illustre Vorstellungen von der "Goethezeit". Damit spielt Bruno Preisendörfer in seiner umfangreichen "Reise in die Goethezeit" sehr lustvoll. Fangen wir mal so an: Um die "Goethezeit" vom Kopf auf die Füße zu stellen, genügt ein kurzer statistischer Hinweis. Das Theater in Mannheim wurde durch die Uraufführung von Schillers "Räuber" zwar berühmt. Aber zwischen 1781 und 1808 wurden dort von August von Kotzebue an 1728 Abenden 115 Stücke gespielt, von August Wilhelm Iffland an 476 Abenden 37 Stücke – und Schillers "Räuber" insgesamt 15 Mal. In Dresden lautete das Resultat zwischen Iffland/Kotzebue und Goethe/Schiller 477:58.
Bruno Preisendörfer hat für die Goethezeit, also für die Zeit etwa zwischen 1770 und 1830, mit viel Genuss nach allen möglichen Materialen und Quellen gefahndet, die nicht vom "Geist" handeln, sondern vom Alltag. Bei den ausufernden Briefwechseln, die in dieser Zeit fast alle Gefühle und Gespräche ersetzen mussten, kommt es ihm vor allem auf die vermeintlich unscheinbaren Stellen zwischen Treueschwüren, Freundschafts- und Liebesbekundungen an – in ihnen ist von Kleidung, Nahrung, Bettbezügen, Kerzen- und Wasserbeschaffung die Rede. So entsteht eine Kulturgeschichte ganz eigener Art.
Mörderblut wurde magisch-heilende Wirkung zugesprochen
Licht kam meist von Kerzen aus Rindertalg, mit geruchsintensiven Blut- und Geweberesten. Mühsam wurde in Weimar durchgesetzt, die Nachttöpfe erst nach 23 Uhr aus den Fenstern zu kippen. Auf den Berliner Straßen konnte man nur mit Stiefeln gehen, und die Spree war eine einzige Kloake. An den Straßen stieß man immer wieder auf Galgen mit den verwitternden Gerippen der dort Gehängten, die zur Abschreckung dienen sollten. Man lernt viel über Korsetts, über die Schnürbrüste der Frauen und über ihre Reifröcke mit Fischbeingestell, mit denen man nur seitwärts durch die Türen kam. Aber auch über Schillerkragen und Wertherfrack.
Preisendörfer nimmt sich alle Bereiche des alltäglichen Lebens vor. Das Gesundheitswesen etwa war von Wunderheilern auf Jahrmärkten dominiert (Krätze auf der Haut? Schwarze Schnecken braten und den Saft verschmieren). Und auch die Kapitel über Hinrichtungen (um das in den Sand sickernde Mörderblut wurde zwischen Henkersknechten und städtischen Handwerkern oft wild gerungen, weil ihm eine magisch-heilende Wirkung zugesprochen wurde!) und Sexualität sind detailreich und augenöffnend. Masturbations-Verhinderungs-Maschinen und Abtreibungs-Praktiken stehen hier zwangsläufig in Zusammenhang mit Goethes und Schillers Werken. Die durch den "Faust" berühmte Kindsmörderin Gretchen gibt Anlass zu einer tiefschürfenden sozialgeschichtlichen Studie.
Preisendörfers Buch ist einzigartiges Kompendium, man bekommt plötzlich ein ganz konkretes Gefühl für Geschichte. Und liest auch einen Satz wie den des großen aufklärerischen Philosophen Immanuel Kant mit ganz ungeahntem Gewinn: "Das Weib wird durch die Ehe frei, der Mann verliert dadurch seine Freiheit."

Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war - Reise in die Goethezeit
Verlag Galiani, Berlin 201
528 Seiten, 24,99 Euro