Sachbuch

Als Sexualität privat wurde

Der Schatten einer Frau und eines Mannes, die sich küssen.
Wann gab es die erste sexuelle Revolution? © dpa / picture alliance / Jan-Philipp Strobel
Von Günther Wessel · 16.06.2014
Sexuelle Freiheit? Die begann, so meinen viele Menschen heute, im späten 20. Jahrhundert und zwar als Folge von Studenten- und Hippiebewegung - und mit der Antibabypille. Dass die Befreiung der Lust schon 200 Jahre früher begann, belegt Historiker Faramerz Dabhoiwala in seinem Buch eindrucksvoll.
England 1612: Vor Gericht stehen zwei Menschen, Mann und Frau, angeklagt, unverheiratet Sex miteinander gehabt zu haben. Sie werden verurteilt, bis zur Hüfte entkleidet, auspeitscht und aus der Stadt verstoßen.
Solche Gerichtsverfahren gibt es zu Beginn des 17. Jahrhunderts häufig in England, aber auch anderswo in Europa: Die Idee, dass Menschen privat und einvernehmlich mit ihren Körpern machen können, was sie wollen, existiert nicht. Sexuelle Disziplin ist ein Merkmal der christlichen Gesellschaften, und der Staat sieht sich spätestens seit dem Mittelalter in der Pflicht, diese durchzusetzen.
100 Jahre später ist das bereits anders: In England diskutieren gebildete Kreise öffentlich über Polygamie (als Lösung dafür, das Männer unmöglich treu sein könnten) und über freie Liebe, mancher denkt über die Freigabe der Homosexualität nach, und in Schottland gründet sich 1732 ein hochgestellter Männerclub namens "The Beggar's Benison", gewidmet dem gemeinsamen Ausleben heterosexueller Vergnügungen.
In diesen hundert Jahren vollzieht sich das, was Faramerz Dabhoiwala die erste sexuelle Revolution nennt. Gründe dafür sind: Die Spaltung des Christentums, die erlaubt, Dogmen zu hinterfragen; die beginnende Aufklärung; Berichte von Reisenden, die andere Kulturen kennen lernten und vor allem in England das schiere Wachstum der Großstadt London, das unmöglich machte, beispielsweise Prostitution überhaupt noch zu überwachen und einzuschränken.
Dabhoiwala schreibt ein spannendes und unterhaltsames Buch
Zudem ändert sich das Frauenbild: Galten im Mittelalter Frauen noch per se als sündige, verführerische Wesen - schließlich hatte Evas Griff nach dem Apfel die Menschheit aus dem Paradies vertrieben - so werden sie nun zu Opfern der männlichen Geilheit: Romane wie "Pamela" von Samuel Richardson belegen das eindeutig, und so wurde es modern, "gefallene Mädchen" - also solchen, die von gewissenlosen Männern verführt und oft in die Prostitution getrieben wurden - zu helfen. Außerdem war in London bereits und 1700 die Zensur abgeschafft worden, was zu einer Ausweitung der Presselandschaft führte. Bilder von und Berichte über Kurtisanen und Mätressen steigerten von nun an die Verkaufszahlen.
Faramerz Dabhoiwala erzählt anekdotenreich, nie trocken und mit einem gewissen distanzierendem Witz. Auch weiß er, dass die sexuelle Revolution sich nicht linear vorwärts entwickelte, es überall Ausnahmen und Nebenwege gab - und auch, dass sie lange nur für eine ganz bestimmte Gesellschaftsschicht galt: weiße heterosexuelle Männer der überwiegend oberen Schichten.
Ihm ist ein spannendes, wissenschaftlich fundiertes und sehr unterhaltsames Buch gelungen, das bewusst macht, seit wann sich der Umgang mit Sexualität schon veränderte und wie er immer wieder Moden und Einflüssen unterliegt. Und doch ist eins für den Historiker sicher: Sexualität als einverständliche Privatsache zu verstehen, ist aufklärerisch und trennt vormoderne und moderne Welten. Eine steile These! Kein Wunder, dass Faramerz Dabhoiwalas Buch in England frenetisch gefeiert wurde.

Faramerz Dabhoiwala: Lust und Freiheit. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution
Aus dem Englischen von Hainer und Esther Kober
Klett-Cotta, Stuttgart 2014
536 Seiten, 29,95 Euro

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