Russlands Geheimdienste

Nawalny, Nowitschok, Nervenspiele

26:28 Minuten
Das Gebäude des FSB in Moskau
Hat nie mit den Traditionen seiner sowjetischen Vorgängerorganisationen gebrochen: Sitz des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in Moskau. © imago / ZUMA Press
Von Gesine Dornblüth und Annette Kammerer · 14.09.2020
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Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde am 20. August auf dem Rückflug von Sibirien ohnmächtig. Die Berliner Charité diagnostizierte eine Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok. Ein Blick auf Russlands Geheimdienste.
Als vor einer Woche bekannt wurde, dass der russische Kremlkritiker Aleksej Nawalny in der Charité in Berlin aus dem Koma geholt worden war, brachte der staatliche russische Fernsehkanal VGTRK noch am selben Tag ein Interview mit einem Mann, der angeblich vor Jahren an der Entwicklung des Giftstoffs Nowitschok beteiligt war. Leonid Rink erklärte, die Tatsache, dass es Aleksej Nawalny besser gehe, belege, dass kein Nowitschok im Spiel gewesen sein könne:
"Wenn es Nowitschok gewesen wäre, wäre er schon längst tot."

Im Podcast der Weltzeit spricht der Historiker Wolfgang Krieger über die Geschichte der russischen Geheimdienste und die Entwicklung des Nervengiftes Nowitschok in den 70er Jahren in der Sowjetunion. Das Gedankengut bestehe weiter: "Russland ist ein Imperium, muss sich verteidigen, politische Gegner müssen im Inneren mit allen Mitteln bekämpt werden."

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Russlands Chefpropagandist Dmitrij Kiseljow erklärte in seiner wöchentlichen Sendung "Vesti Nedeli":
"Die russischen Ärzte in Omsk haben im Blut, im Urin und auf der Haut Nawalnys keinerlei Giftstoffe entdeckt. Die Diagnose in Omsk lautete: Ein stark gestiegener Blutzuckerspiegel aufgrund akuter Stoffwechselstörungen."

Geheimdienst kommt in Nawalny-Artikeln nicht vor

In den letzten Wochen hat Russland viele teils widersprüchliche Erklärungen für die Erkrankung Nawalnys gestreut. Der russische Geheimdienst kommt dabei nicht vor.
Am Tag nach Nawalnys Vergiftung schrieb das Massenblatt "Moskowskij Komsomolez", Nawalny sei in Sibirien auf Schritt und Tritt beschattet worden, von "Polizisten" und "Angehörigen der Verteidigungs- und Sicherheitsorgane". Das Wort "Geheimdienst" fehlt in dem Artikel. Der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin hat eine Anfrage an den Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB geschickt, auf welcher Grundlage Nawalny beschattet wurde. Jaschin räumt selbst ein, dass seine Anfrage eher "symbolischen Charakter" habe, denn er sei überzeugt, dass der FSB den Anschlag auf Nawalny ausgeführt habe – im Auftrag von Präsident Putin.
Die russischen Geheimdienste – es sind mehrere – werden in Russland einmal im Jahr, am 19. Dezember, öffentlich gefeiert. Gewöhnlich spricht Präsident Putin an diesem Tag zu den Mitarbeitern. Das Staatsfernsehen überträgt.
"Sehr geehrte Kameraden! Liebe Veteranen! Wir ehren heute Menschen, die diese schwere, aber für unseren Staat und unsere Gesellschaft äußerst wichtige Arbeit gewählt haben."
Putin steht an diesem Feiertag meist auf einer Bühne vor einem schweren Vorhang in den Farben der russischen Flagge. Putin kommt selbst aus dem Geheimdienst, und in seiner offiziellen Biografie heißt es, er habe schon als Junge von dieser Karriere geträumt. Das war noch in der Sowjetunion, der FSB hieß damals noch KGB.
Im Saal sitzen Männer und Frauen in dunklen Anzügen auf blauen Polsterstühlen. Einige tragen Schulterklappen. Putin:
"Es ist angenehm, in diesem Saal auch unsere verehrten Veteranen zu sehen. Für Sie waren und sind Pflichtgefühl und Heimatliebe die höchsten Werte. Ich bin überzeugt, die heutigen und künftigen Generationen werden die Traditionen der Veteranen bewahren und würdig weiterentwickeln."

Kein Bruch mit sowjetischer Tradition

Der russische Geheimdienst hat nie mit den Traditionen seiner sowjetischen Vorgängerorganisationen gebrochen. In den russischen Strafkolonien zum Beispiel stehen bis heute Gedenksteine mit Hammer und Sichel, Schild und Schwert – das waren schon die Insignien des NKWD, des nach der Oktoberrevolution 1917 gegründeten Innenministeriums der Sowjetunion und seiner Geheimpolizei. Der NKWD ist für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich.
Eine Spezialeinheit des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Man sieht mehrere Soldaten von hinten mit dem Aufdruck "FSB" auf dem Rücken. 
Greifen hart durch: Mitglieder einer Spezialeinheit des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB.© picture alliance / dpa / Igor Zarembo
Ehemalige des sowjetischen Geheimdienstes haben heute in Russland Schlüsselpositionen inne. Ehemalige hochrangige Angehörige des Militär- und Sicherheitsapparates sitzen im Management der staatlich kontrollierten Gas- und Ölkonzerne.
Überläufer hingegen müssen Rache fürchten. Dafür ist der GRU zuständig, die Hauptverwaltung für Aufklärung, der militärische Nachrichtendienst Russlands. Er hat seit der Sowjetzeit nicht mal den Namen gewechselt. Zwei Agenten des GRU sollen 2018 den Mordanschlag auf den ehemaligen Mitarbeiter Sergej Skripal und dessen Tochter im britischen Salisbury verübt haben. Das Gift: Nowitschok.
Britische und russische Investigativjournalisten identifizierten zwei Tatverdächtige. Die beiden gaben daraufhin dem russischen Propagandasender RT ein Interview und machten sich zum Gespött der Zuschauer. Gekleidet in einfache Pullover und schlecht rasiert kauern die Männer auf ihren Drehstühlen. Sie seien rein zufällig am Tag des Anschlags in Salisbury gewesen:
"Unsere Freunde raten uns seit langem, diese schöne Stadt zu besuchen. Es gibt dort eine berühmte Kathedrale, sie ist in ganz Europa, ja sogar in der ganzen Welt berühmt wegen ihres 123 Meter hohen Turms."
Die russische Regierung bestreitet bis heute jede Verstrickung russischer Geheimdienste in den Mordanschlag auf Skripal und seine Tochter – genau wie im Fall Nawalnyj und in allen anderen Fällen.

Überwachung eines Menschenrechtsaktivisten

"Ich heiße Lev Alexandrovitsch Ponomaryov und ich bin – leider, muss ich sagen – einer der ältesten Menschenrechtsaktivisten, die heute noch arbeiten."
Lev Ponomaryov hat in den 90ern die Organisation "Za Prava Cheloveka" (Für die Rechte des Menschen) gegründet. Vor einigen Tagen ist er 79 Jahre alt geworden. Dass sich die Leitung nach Russland erst nach einigen Ausfällen einruckelt, nimmt er mit Humor:
"Nicht nur hier in Russland gibt es also so komische Ausfälle. Auch in Deutschland – und das in einer Demokratie!"
Lev Ponomaryov gilt als einer der wichtigsten Menschenrechtsaktivisten Russlands – er arbeitete auch für die Moskauer Helsinki-Gruppe.
"Zum ersten Mal mit den Geheimdiensten in Kontakt gekommen bin ich in der Sowjetunion. Damals saß ich in einem Flugzeug und habe die Frau des Gründers der Moskauer Helsinki-Gruppe begleitet. Einfach nur begleitet – Menschenrechtsaktivist war ich damals noch nicht. 1986 oder '85 war das. Wir hatten keine Sitzplätze nebeneinander bekommen und fragten im Flugzeug dann einen Mann, ob wir nicht tauschen könnten. Der sagte Nein und ich meinte: 'Aber mein Platz ist doch gar nicht schlechter als Ihrer." Bis er mir dann irgendwann grob den Mund verbot: 'Nein, ich sitze hier.' Später haben wir ihn dann zufällig im Gebäude des Inlandsgeheimdienstes FSB gesehen, wo wir ein Papier für unsere Weiterreise brauchten. Da wussten wir: Der saß nicht zufällig da, wir werden auf Schritt und Tritt überwacht."

"FSB hat mehr Macht als der Präsident"

Der 79-Jährige ist eigentlich promovierter Physiker, war Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde Lev Ponomaryov Abgeordneter der Duma, des russischen Parlaments. Er gründete 1997 seine noch heute bestehende Menschenrechtsorganisation "Za Prava Cheloveka".
"Heute ist der KGB faktisch an der Macht. Also ich meine: wirklich jetzt. Da muss man ja nur den Präsidenten anschauen, der früher beim KGB war. Ich denke sogar, dass KGB und FSB heute mehr Macht haben als der Präsident selbst. Warum? Weil sie einfach überall sind. In jeder Organisation sind FSB-'Reserveoffiziere' eingeschleust. Das heißt, niemand weiß, dass ihr Gehalt in Wirklichkeit vom Inlandsgeheimdienst FSB bezahlt wird. Sie kontrollieren einfach das ganze öffentliche Leben dieses Landes."
2012 registrierte das russische Ministerium die Menschenrechtsorganisation von Lev Ponomaryov als ausländischen Agenten. Einige Jahre später verbot ein Gericht sie dann ganz. Heute funktioniert die Organisation ohne juristische Entität weiter und hat einen etwas anderen Namen.
"Unser Land wird immer faschistischer. Mit einem totalitären Vorgehen", sagt Ponomaryov.

Getreten und geschlagen

Mal wurden Lev Ponomaryov die Autoreifen zerstochen, mal schmissen Störenfriede auf der Pressekonferenz seiner Organisation Eier auf Anwesende. 2009 wird der Menschenrechtsaktivist dann vor seinem Haus zusammengeschlagen:
"Ich bin im Auto nach Hause gefahren, will gerade aussteigen, als mich ein junger Mann mit einer Handbewegung fragt, ob ich eine Zigarette hätte. Ich sage, dass ich nicht rauchen würde, bin kurz abgelenkt und schon werde ich auf den Boden geworfen und getreten. Ich schreie laut, und zum Glück kommt jemand mir zur Hilfe. Einmal habe ich den Inlandsgemeindienst FSB angerufen und gesagt: 'Freunde, wenn mir etwas passiert, seid ihr dran schuld. Weil ihr schlecht auf mich aufgepasst habt.'"
Ironie. Weil er ständig überwacht wird. Wer Lev Ponomaryov angegriffen hat, wurde nie geklärt. Heute vermutet er, ein Abgeordneter der Duma hätte den Auftrag gegeben. Nicht der Inlandsgeheimdienst. Doch Beweise hat der Menschenrechtsaktivist keine – drei Mal stellte die Polizei die Ermittlungen in seinem Fall ein.

Wie ein brauner Schimmel

Eine nicht geklärte Verantwortlichkeit sieht er auch im Fall Nawalny:
"Jetzt, im Fall Alexej Nawalny, ist überhaupt nicht gesagt, dass Putin selbst den Auftrag gegeben hat. Solche Dinge verselbstständigen sich. Der Inlandsgeheimdienst ist wie ein brauner Schimmel – er ist unten, oben, überall. Und das ist das Schlimmste für das Land: Dieser Prozess ist nicht kontrollierbar. Diese Leute sind überall und machen das, was sie für ihre Pflicht halten. Das ist gefährlich – nicht zuletzt sogar für die Regierung selbst."
Und trotzdem würde der Oppositionelle nicht sagen, dass er Angst im Alltag hat: "Die meisten Aktivisten oder Oppositionelle denken darüber nicht konkret nach. Im Hinterkopf ist die Angst, aber ich denke darüber nicht die ganze Zeit nach. Ich habe mich daran gewöhnt."
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