Russlands gebrochenes Verhältnis zur eigenen Geschichte

Niemand will sich schmerzlich erinnern

Reproduktion eines Propaganda-Plakates, das den sowjetischen Diktator Josef Stalin (1878-1953) zeigt
Propagandaplakat: Der sowjetische Diktator Josef Stalin (1878-1953), wie er sich selbst gern sah - und wie ihn heute noch ein Teil der russischen Bevölkerung betrachtet © Deutschlandradio/ dpa / picture alliance / Jens-Ulrich Koch
Von Sabine Adler · 22.06.2016
Heute vor 75 Jahren überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Mit dem Großen Vaterländischen Krieg wurde Stalin zur Kultfigur – einer der Gründe dafür, warum eine echte Aufarbeitung der Stalin-Zeit nie stattgefunden hat. Ein Interview mit dem russischen Schriftsteller Sergej Lebedew.
Sergej Lebedew, Sie werfen ihren Landsleuten, die Geschichte zu hassen und mit ihr umzugehen wie Stalin, also Unliebsames auszuradieren, zu verfälschen.
"Ich benutzte ein Zitat von Alexander Jakowlew, einer der Vordenker der Perestroika, der sagte, dass wir mit den Stalin-Verbrechen auf Stalins Art und Weise umgehen. Die Leute wollen sich nicht an die schmerzliche Geschichte erinnern, was normal ist. Aber man muss sie dazu zwingen, weil das eine Art Therapie ist. Wer sich nicht mit seiner Schuld oder der anderer auseinandersetzt, macht sich selbst schuldig, weil er mit Geschichte umgeht wie Stalin."
Würden Sie sagen, dass das die Schuld der Wissenschaftler, der Historiker ist?
"Meiner Meinung gibt es zwei Hauptschuldige: Zuerst sind das die Juristen. Die Juristen hätten Verbrechen des Regimes und Einzelner dokumentieren müssen. Wenn das überhaupt einer getan hat, dann die Publizisten. Außerdem sind die Künstler schuld. Es fehlen die große Werke, Romane, Filme. Den Krieg im 19. Jahrhundert wird man immer mit 'Krieg und Frieden' von Leo Tolstoi verbinden. Aber es gibt nicht dieses eine große Kunstwerk, das uns auf eine bestimmte Art und Weise auf die sozialistische Vergangenheit schauen lässt."
Aber es gab doch eine ganze Reihe von Büchern und Filmen über den Zweiten Weltkrieg?
"Das war doch alles sozialistischer Realismus, mit Ausnahme von Wassili Grossman, und sogar er tappte in eine Falle. Seine Arbeiten waren metaphysisch, seine Sprache aber war die eines sowjetischen Journalisten. Der Roman 'Leben und Schicksal' war ein großer Versuch, aber kein großer Roman. Zu Sowjetzeiten war ein wirklich großer Roman über den Großen Vaterländischen Krieg nicht möglich, denn die Wahrheit durfte nicht geschrieben werden. Das kann man heute nicht mehr nachholen. Was man heute machen kann, ist, zu zeigen, wie diese ganzen Mythen über den Zweiten Weltkrieg heute benutzt werden."
Welche Themen müssen Ihrer Meinung nach unbedingt von den Historikern, Künstlern aufgegriffen werden, welche Geschichte muss geschrieben werden? Ist es die des früheren Geheimdienstes KGB oder sind es die Kriege in Afghanistan und Tschetschenien?
"Wir haben es mit einem 70jährigen Schweigen zu tun. Wenn überhaupt über irgendetwas gesprochen wurde, dann war es nur zur Hälfte oder noch weniger wahr. Wir haben es mit einer total verfälschten Geschichte zu tun! Es ist jetzt nicht mehr möglich, sich damit noch einmal zu befassen. Unsere Geschichte ist in einem Schwarzen Loch verschwunden. Man kann jetzt nicht einzelne mehr oder weniger wichtige Ereignisse herausheben und nachträglich darstellen. Jetzt wird diese verloren gegangene, nicht geschriebene Geschichte selbst zum Thema."
Autor Sergej Sergejewitsch Lebedew auf der Leipziger Buchmesse 2016. 
Autor Lebedew auf der Leipziger Buchmesse: Ein 70 Jahre währendes Schweigen© imago stock&people
Einige Historiker meinen, dass man mit einer echten Geschichtsschreibung erst nach dem Zerfall der UdSSR habe beginnen können und seitdem nie richtig Zeit dafür gewesen sei. Wie sehr kommt das dem Wunsch der heutigen Führung Russlands entgegen, sich lieber nicht so eingehend mit den dunklen Kapiteln der Geschichte zu befassen?
"Gute Frage. Dass es nicht Anfang der 90er Jahre losging, lag an der weit verbreiteten Angst vor der Zukunft. Und man kann nicht zugleich in die Zukunft und Vergangenheit blicken. So schrecklich die Sowjetzeit auch war, so stabil erwies sie sich. Und zu Jelzins Zeiten kam die Angst vor Krieg. Und wieder musste die Geschichte zurückstecken."
Gibt es in Russland das Verständnis von individueller Schuld?
"Das ist absolut nicht verbreitet, zumal das ja auch eine juristische Frage ist. Und da sind wir auch noch lange nicht, denn es findet keinerlei Diskussion über Schuld statt. Stattdessen heißt es: Keiner ist schuld. Oder aber: Stalin und Berija sind schuld. Schon Chruschtschow hat diese beiden Leichen benutzt. Nicht ein einziger, der zu Sowjetzeiten Unschuldige verhaftet oder erschossen hat, gestand öffentlich seine Schuld oder bat um Vergebung. Alle anderen haben nichts getan, nur gelitten."
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