Russland und die Wahl

Der ewige Putin

25:44 Minuten
Wladimir Putin im Wahlkampf auf dem Nakhimova-Platz in Sewastopol auf der Krim
Wladimir Putin im Wahlkampf 2018 © imago/Alexei Nikolsky
Von Thielko Grieß · 15.03.2018
Audio herunterladen
An einer neuen Amtszeit des Präsidenten Wladimir Putin hegt niemand Zweifel. Doch das Land steht vor großen Fragen, von denen mit der Wahl keine beantwortet wird – weder nach innen noch nach außen. Was folgt daraus? Eine Zwischenbilanz wenige Tage vor der Wahl.
Die Beschäftigten der Fahrzeugfabrik "GAZ" in Nischni Nowgorod feiern den Präsidenten. Das Werk ist am Markt erfolgreich, unter anderem läuft hier ein populärer Lieferwagen vom Band. Wladimir Putin hatte die Fabrik ausgewählt, um etwas bekannt zu geben.
"Es gibt in der Tat wahrscheinlich keinen besseren Ort für folgende Ankündigung: Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung. Ich werde für das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation kandidieren. Vielen Dank Ihnen!"
Menschen verlassen Fabrik nach Feierabend
Fahrzeugfabrik „GAZ“ in Nischni Nowgorod © Thielko Grieß/DLR Moskau
Das war im Dezember. Einige Wochen später, kurz vor der Wahl, am Eingang eines der Gebäude des Fabrikkomplexes. Hier sitzt eine ältere Frau an einem Tisch und weist Besuchern den Weg. Sie erinnert sich gern an den Tag, an dem Putin kam:
"Ach ja, das war der 85. Geburtstag der Fabrik!"
Ihre Eltern, sie selbst und ihre Kinder arbeiten bei GAZ.

"Mit ihm hat alles neu begonnen"

"Putin ist eine hohe Persönlichkeit. Auch im Ausland wird er sehr geschätzt als der beste Präsident der Welt. Er tut sehr viel für unser Land. Es war so herunterwirtschaftet, aber dann hat alles neu begonnen. Es wächst, wir fühlen das. Wir brauchen nicht mehr jahrelang auf neue Wohnungen zu warten. Früher mussten wir mit den Eltern eine Wohnung teilen. Aber jetzt können wir Wohnungen kaufen, so viele gibt es jetzt!"
Wie sie schätzen viele Russinnen und Russen etwas, was sie landauf, landab als Stabilität beschreiben. Verglichen mit dem Jahr 2000, dem ersten Regierungsjahr Putins, geht es dem Land besser. Aber zuletzt haben Sanktionen, der schwache Rubelkurs, steigende Preise für manche Lebensmittel deutliche Dellen hinterlassen, die direkt zu spüren sind: So sind die Realeinkommen laut Statistikamt vier Jahre in Folge gesunken und der Rubelkurs ist weiter schwach.
Der russische Präsident Wladimir Putin bei seiner Rede an die Nation
Der russische Präsident Wladimir Putin© AP/Alexander Zemlianichenko
Der Lage der Wirtschaft und der Sozialpolitik hat Wladimir Putin Anfang März einen Großteil seiner "Rede an die Nation" gewidmet, der einzigen grundlegenden programmatischen Erklärung seines Wahlkampfs. Der Präsident hat ehrgeizige Ziele ausgegeben.
"Russland muss nicht nur eine der fünftgrößten Volkswirtschaften der Welt werden, sondern bis Mitte des nächsten Jahrzehnts das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um das Anderthalbfache erhöhen. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Ich bin mir aber sicher, dass wir in der Lage sind, diese Aufgabe zu meistern. – Die Lebenserwartung ist um sieben Jahre gewachsen und liegt jetzt bei 73 Jahren. Aber auch das ist nicht ausreichend. Ende des nächsten Jahrzehnts muss Russland dem Club der Länder angehören, in denen die Lebenserwartung mehr als 80 Jahre beträgt, wie Japan, Frankreich und Deutschland."
Der Präsident versprach außerdem unter anderem höhere Renten, schnelles Internet im ganzen Land, neue Straßen, hochwertige, gut bezahlte Arbeitsplätze, Erleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen, mehr Geld für Forschung und Familien. Details, wie das Land all das stemmen soll, nannte er nicht.

Reformen sind ein Risiko, das Putin nicht mag

Armut, Rente, Einkommen, Wirtschaftslage – das sind für die meisten Russinnen und Russen die wichtigsten Themen. Fachleute aber sehen die Volkswirtschaft in einem anhaltenden und wachsenden Reformstau. Zu den Kritikern der putinschen Wirtschaftspolitik zählt Andrej Netschajew, der Anfang der 90er Jahre Wirtschaftsminister unter Präsident Jelzin war. Seine Haltungen sind wirtschaftsliberal.
"Sie wissen, dass Reformen immer ein Risiko sind. Ein Risiko für die Popularität, ein Risiko für das Rating. Und Herr Putin mag das Risiko nicht. Das ist nur eine Frage des politischen Willens. Und ich bin leider nicht sicher, dass er diesen politischen Willen hat."
Der Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen, würde bedeuten, engen Weggefährten Putins ein Stück ihrer Macht zu nehmen. Sie sind mit ihm aufgestiegen, Konzernchefs oder hohe Beamte geworden. Zudem haben es liberale Reformer ohnehin schwer in Russland. Ihre Politikentwürfe erinnern viele Menschen an di Zustände in den 90er Jahren, an das Chaos. Diese Furcht ist ein wichtiger politischer Faktor, den Putin nutzt, meint der frühere Minister Netschajew. Die Staatsmedien fördern dies durch tägliche Inszenierung – die meisten Menschen verbinden weder die ökonomische Krise noch das Ausbleiben eines Aufschwungs mit dem Präsidenten.
Vladimir Putin im Fernsehen
Putin auf allen Kanälen: Die Medien der russischen Opposition werden zunehmend behindert oder ganz gesperrt.© dpa / picture alliance / Maxim Blinov
"Unsere Propagandisten, mindestens von den offiziellen, staatlichen Fernsehkanälen und Radiokanälen, sind talentierte, kreative und ganz pragmatische, zynische Leute. Aber sie sind erfolgreich."
Seit Jahren gilt die Arbeitsteilung, dass schlechte Nachrichten Ministerpräsident Medwedjew und seine Regierung zu rechtfertigen haben, der Präsident gleichzeitig unanfechtbar über den schwierigen Details des Alltags steht. Mehr noch: Reichweitenstarke Medien vermitteln kontinuierlich, wie sich Wladimir Putin trotz seines engen Terminplans der Sorgen einfacher Bürger annimmt, sodann Anweisungen zur Lösung regionaler Probleme erteilt, die praktisch über Nacht tatsächlich verschwinden.

Das Märchen über die Größe Russlands

Der Glaube an die Allmacht des Kreml-Chefs ist nicht logisch und ist widersprüchlich, aber verbreitet – und ein wichtiger Pfeiler seiner Macht, sagt Dmitrij Oreschkin, Moskauer Politologe.
"Er befriedigt den Hunger der Menschen nach einem Märchen über die Größe des Landes. In seiner politischen Karriere hat es drei Popularitätssprünge gegeben, die alle mit kleinen, siegreichen Kriegen verbunden sind: Der Krieg in Tschetschenien, gegen Georgien und in der Ukraine. Jetzt beginnt wohl die Periode der Enttäuschung oder eher des Unverständnisses. Einerseits sind wir nach Auffassung der Mehrheit stärker geworden, die Krim ist Teil Russlands, aber andererseits haben die Leute weniger Geld in der Tasche. Sie haben sich damit ziemlich lange zufrieden gegeben, weil sie zu gewissen persönlichen Opfern bereit waren. Dafür haben sie emotionale oder ideologische Erbauung bekommen: ‚Niemand hat uns mehr Befehle zu erteilen. Wir haben uns dem Diktat der USA entgegengestellt. ‘ Das sind zwar Mythen, aber sie funktionieren. Erst jetzt werden sie schwächer. Trotz massiver Propaganda sehen wir erste Anzeichen von Müdigkeit."
Polizisten stellen sich am 07.10.2017 in Moskau (Russland) Demonstranten einer Großdemonstration zu Präsident Wladimir Putins 65. Geburtstag in den Weg. Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny hat landesweit in rund 80 Städten zu Protesten gegen die Staatsspitze und für freie und faire Wahlen aufgerufen. 
Polizisten stellen sich in Moskau Demonstranten einer Großdemonstration zu Präsident Wladimir Putins 65. Geburtstag in den Weg.© AP /Ivan Sekretarev
Oreschkins Analyse erklärt einen Teil der politischen Apathie, die nicht nur er in Russland ausmacht. Dagegen setzt der Staatsapparat aus Verwaltungen, Partei und gefügigen Institutionen im ganzen Land eine Mischung aus Verlockung und Druck: Mancherorts werden Gewinnspiele angesetzt, um die putinloyale Wählerschaft zur Abstimmung zu locken. Und im ganzen Land tauchen Hinweise auf, wie Staatsbedienstete gedrängt werden, ihr Kreuz nur in der Mitte des Wahlzettels zu machen. Dort steht der Name des Präsidenten.

Andere Kandidaten nützen dem Kreml

Währenddessen werben auch andere Kandidaten um Stimmen. Auch sie erfüllen eine Aufgabe, die dem Kreml nutzt: Sie steigern die Wahlbeteiligung, weil sie spezifische Milieus ansprechen und für die Wahl interessieren. Zwei Personen stechen heraus: Ksenia Sobtschak, frühere Fernsehmoderatorin, und Pawel Grudinin, Kandidat der Kommunistischen Partei.
"Das aus meiner Sicht größte Problem ist, dass wir wieder eine Klassengesellschaft geworden sind und Menschen voneinander getrennt haben."
Wahlplakat mit dem Kandidaten zur Präsidentschaftswahl in Russland Pawel Grudinin
Pawel Grudinin ist Direktor eines Unternehmens vor den Toren Moskaus und Kandidat der Kommunistischen Partei© Thielko Grieß (DLR Moskau)
Pawel Grudinin ist Direktor eines Unternehmens vor den Toren Moskaus. Dessen Name, "Lenin-Sowchose", stammt aus der Sowjetzeit. Manche Charakteristika sind geblieben: Wer hier wohnt, arbeitet häufig auch im Unternehmen. Die Sowchose ist ein erfolgreiches Unternehmen, verkauft zum Beispiel Erdbeeren und Milch.
"Das hier ist ein volkseigener Betrieb, der alle seine Mittel für die Modernisierung der Produktion aufwendet, für soziale Programme und die Verbesserung des Lebens der Menschen. Außerdem: für materielle Hilfe für Rentner, für Löhne. Die sind bei uns, gemessen an russischen Löhnen, sehr hoch. 78.000 Rubel haben unsere Arbeiter im vergangenen Jahr durchschnittlich monatlich verdient. Wir haben zum Beispiel einen Kindergarten gebaut, der so aussieht wie Schloss Neuschwanstein."
Nicht nur der Kindergarten, auch die Schule ist neugebaut, modern und technisch aufwändig eingerichtet. Nur mit Erdbeeren war dies nicht zu finanzieren: Die Sowchose hat viel Geld an Landverkäufen verdient, als der IKEA-Konzern Grundstücke für seine Filialen benötigte. Mit dem Vorbild seiner Sowchose wirbt Grudinin im Namen der Kommunistischen Partei für einen Politikwechsel: mehr soziale Gerechtigkeit.

Kommunistische Partei tritt bei der Wahl an

Die Außenpolitik Putins kritisiert er mit keinem Wort – und Diktator Stalin hat seinen Aussagen zufolge keine verbrecherische Politik betrieben. Er spricht Wähler an, die sich mehr Staatseinfluss auf die Wirtschaft wünschen und der Sowjetunion nachhängen. Umfragen sehen Grudinin auf Platz zwei mit mehr als zehn Prozent. Seine Glaubwürdigkeit als Verfechter der Interessen einfacher Bürger trübt allerdings, dass er selbst Teile seines privaten Reichtums in die Schweiz geschafft hat, darunter Bestände an Gold.
Die russische Fernsehjournalistin Ksenia Sobtschak auf einem Archivbild von 2012 unterwegs in Moskau.
Die russische Fernsehjournalistin Ksenia Sobtschak auf einem Archivbild von 2012 unterwegs in Moskau. © picture alliance / dpa / Dzhavakhadze Zurab
Auch Ksenia Sobtschak kämpft mit ihrem Ruf. Die heute 36-Jährige ist vor Jahren im "Dom-2", dem russischen "Big Brother", als gut attraktive Moderatorin bekannt geworden, nicht wegen ihrer politischen Kommentare. Das Image eines IT-Girls hängt ihr bis heute nach, obwohl sie später im unabhängigen Kanal "Doschd" journalistisch seriöse Interviews geführt hat. Ihr Slogan lautet nun: «Против всех», "Gegen alle" – das ist der Versuch, sich ein Image zu geben, das Spiel von Machtapparat, Kreml und Scheinoppositionellen nicht mitspielen zu wollen. Tatsächlich benennt Sobtschak deutlicher als andere Kandidaten Wladimir Putin als Schuldigen für Missstände im Land. Außenpolitisch hat sie gleich in ihrer ersten Pressekonferenz aufhorchen lassen:

Eine Kandidatin, die Rätsel aufgibt

"Die Ukraine ist der wichtigste Partner Russlands. Die Wiederherstellung normaler und besserer Beziehungen ist wohl zweifellos die wichtigste Aufgabe, der sich Russland heute stellen muss. Aus Sicht des Völkerrechts ist die Krim ukrainisch. Punkt."
Wladimir Putins Ukraine-Politik infrage zu stellen, ist in der russischen Politik ein Tabu. Nicht nur dies hat viele fragen lassen: Steht Ksenia Sobtschak unter dem Schutz des Kremls? Ist sie gar ein Projekt des Kremls, darauf ausgerichtet, Frauen, Jüngere und Oppositionelle anzusprechen? Tatsache ist, dass ihr Vater, Anatolij Sobtschak, in den 90er Jahren Bürgermeister von Sankt Petersburg war – jener Mann also, unter dem Wladimir Putin wichtige Karriereschritte machte. Putin hat Ksenias Vater geschätzt. Was der Präsident von Ksenia Sobtschak nun hält, in welcher Beziehung beide heute stehen, gehört zu den Geheimnissen dieses Wahlkampfs.
Wladimir Putin steht vor seiner vierten Amtszeit als Präsident. Danach darf er laut Verfassung nicht noch einmal antreten. Dass er aber 2024 wirklich abtritt, hält Oreschkin nicht für ausgemacht.
"Meiner Meinung nach wird er wie Leonid Breschnew bis zu seinem Lebensende an der Spitze der Machtvertikale sitzen. Zum einen weiß er, dass man ihm vieles vorwerfen kann, wenn er die Situation nicht unter Kontrolle hat. Zum anderen ist er psychisch einfach nicht bereit, schwach und schutzlos zu erscheinen. Sein Weltbild ist wie folgt: Entweder kontrolliert man alles oder man ist ein hilfloser Junge, der verprügelt wird. Eine weitere Variante gibt es nicht."

Wie Putin und Lenin streiten - Dem russischen Präsidenten graut vor Umbrüchen. Zugleich ist die Oktoberrevolution eine Quelle nationaler Identität. Niemand ist davon mehr überzeugt als Revolutionsführer Lenin, der für diesen letzten Schlagabtausch noch einmal zum Leben erwacht. Ein Beitrag von Thomas Franke.
Audio Player

Mehr zum Thema