Russland ist "in einem absoluten Raubtierkapitalismus angekommen"

Thomas Ostermeier im Gespräch mit Ulrike Timm · 02.03.2012
In Russland gäbe es immense Klassenunterschiede, erklärt Regisseur Ostermeier. Seine Erfahrungen, die er in der Probenzeit in Moskau gemacht habe, seien in seine Inszenierung von "Fräulein Julie" eingeflossen. Nach der Moskauer Premiere im Dezember ist das Stück jetzt in Berlin zu sehen.
Ulrike Timm: Thomas Ostermeier, der künstlerische Leiter der Schaubühne in Berlin, kennt Strindbergs Drama "Fräulein Julie" inzwischen gut auf Russisch, denn er hat das Werk mit russischen Schauspielern inszeniert, und zwar in turbulenten Zeiten. Also Ostermeier im Dezember mit den Schauspielern des Theaters der Nation in Moskau arbeitete, gingen Hunderttausende in Russland auf die Straße, um gegen Wahlfälschungen zu protestieren. Jetzt gastieren die Moskauer Schauspieler in Berlin mit dieser Arbeit, wenige Tage vor - na, wie soll man es sagen? - sich Putin wieder wählen lässt, wenige Tage also vor den Wahlen in Russland.

Wie das ineinandergreift, die Kunst auf der Bühne und die Wirklichkeit auf der Straße, wie er seine Arbeit in Russland erlebt hat, darum soll es jetzt gehen im Gespräch mit dem Regisseur Thomas Ostermeier. Ganz herzlich willkommen bei uns!

Thomas Ostermeier: Hallo!

Timm: "Fräulein Julie ist ja ein Stück um Machtverhältnisse zwischen einer hochgestellten reichen Frau und einem Diener, eine Liebesaffäre kehrt diese Verhältnisse dann um. Plötzlich kann dieser kleine Diener herrschen über die Frau, die gemeinsam mit ihrem Mann ja ursprünglich seine Arbeitgeberin war. Soweit und so sehr verkürzt August Strindberg - konnten Sie da irgendwie andocken an die russische Realität von heute?

Ostermeier: Nein, sie war nicht gemeinsam mit ihrem Mann der Chef von dem Jean, sondern mit ihrem Vater. Also bei Strindberg schon und bei uns auch ist sie die Tochter aus reichem Hause, bei Strindberg ist sie noch Aristokratin. Ich habe das Stück schon länger sehr interessant gefunden, natürlich vor allem wegen dem Geschlechterverhältnis, aber keinen Zugang gefunden, das hier in Deutschland zu machen, da dieser immense Klassenunterschied glücklicherweise einigermaßen hinter uns geblieben ist.

Und als ich in den letzten Jahren öfters in Russland war und mitbekommen habe, wie viele auch der Kollegen dort leben - also so zum Beispiel gehört es für viele zum Alltag, dass sie einen Chauffeur haben in dieser Stadt, und viele andere bemerkenswerte Dinge - habe ich mir gesagt, dieses Stück über Klassenunterschiede und dann die Verwicklungen der Liebe, die sich daraus ergeben, kann man in Russland machen, und habe es dann übertragen gemeinsam mit einem russischen Dramatiker - Michail Durnenkow - auf die heutigen russischen Verhältnisse.

Timm: Also Strindberg hat Moskau von heute sozusagen mit eingefangen?

Ostermeier: Nein, ich würde eher sagen, dass diese immensen Klassenunterschiede und dieser Unterschied zwischen Arm und Reich und dieser Traum vom Aufstieg in höhere Regionen, dass das etwas ist, worüber Strindberg geschrieben hat, und in Moskau zu erleben ist.

Timm: Wie war das eigentlich sprachlich? Das Stück klingt plötzlich in einer ganz anderen Sprache. Verändert es sich dadurch, und wie haben Sie das gemacht? Können Sie Russisch?

Ostermeier: Das klingt ja nicht anders, weil das jetzt nur auf Russisch übersetzt worden wäre, sondern weil es eine echte Bearbeitung ist. Also wir haben - oder Durnenkow hat sehr viel auf die heutige Situation geschrieben, so zum Beispiel ist sie Tochter eines ehemaligen KGB-Generals, der ins Business gegangen ist, Jean ist Chauffeur, ist nicht ihr Diener, war ehemaliger Soldat, Tschetscheniensoldat, hat auch noch so etwas wie so ein Kriegstrauma, und es gibt viele Anspielungen auf Oligarchentöchter, in der Ausstattung, im Kostüm - also die Welt ist schon sehr wiedererkennbar. Was Russisch anbelangt, kann ich nur sagen, tschut-tschut, ja ponimaju, ich verstehe ein bisschen.

Timm: Einer Ihrer Protagonisten, Jewgeni Mironow, der ist Leiter des Theaters der Nation in Moskau, und er hatte sie eingeladen, er ist einer der geliebtesten Schauspieler in Russland und steht als Theaterleiter selber immer wieder im engen Kontakt mit staatlichen Stellen, bisweilen sogar mit Herrn Putin persönlich. Unter anderem hat Putin bei der Neueröffnung des Theaters der Nation ja Klavier gespielt und gesungen. Wie manövriert da ein Schauspieler, wie meistert er den Spagat zwischen demokratischem Anspruch und ökonomischer Abhängigkeit?

Ostermeier: Den meistert er eigentlich gar nicht, sondern das begann schon während der Probenarbeit, zu einer Zerreißprobe zu werden. Ich war immer sehr fasziniert davon, wie Mironow es eigentlich geschafft hat, ab Probenbeginn quasi diese ganzen politischen Auseinandersetzungen, aber auch die ökonomischen Auseinandersetzungen beiseitezuschieben, wirklich belastet, sichtbar belastet hat es ihn kurz vor unserer Premiere, es gab diese viereinhalbstündige Fernsehshow von Putin, wo er sich ans Volk wendet, verschiedene Volksgruppen repräsentierte, Gewerkschafter, aber auch Putzfrauen, Taxifahrer, alle sitzen im Fernsehstudio, und Putin gibt sich volksnah.

Und da hat er Mironow auch zu eingeladen, und er musste auch im Studio sitzen, hat sich allerdings erhofft, da dran vorbeizukommen, aber dann wurde ihm eben vom Kreml beschieden, das er in so einer Abhängigkeit besteht, dass er ihnen jetzt auch einen Gefallen tun muss. Und nach dieser Erfahrung war es für Mironow wirklich sehr schwer, wieder in die Probenarbeit und in diese Rolle zurückzufinden, weil ihn das doch sehr belastet hat. Es ist ja auch immer eine Frage der Koalitionen: Mit wem macht er jetzt eine Koalition?

Einer der Geldgeber aus dem Umkreis von Putin ist dann ausgeschlossen worden aus diesem Machtkader, hat versucht eine eigene Partei aufzubauen und hat dann Mironow zu einer Pressekonferenz zu dieser eigenen Partei eingeladen. Und dann stand er natürlich vor der Situation, was mache ich jetzt. Der ist abtrünnig vom Kreml geworden, nicht mehr geliebt, lädt mich zu seiner Pressekonferenz. Ich brauche dem sein Geld - wenn ich hingehe, habe ich keine Freunde mehr im Kreml. Das sind schon sehr komplexe Abhängigkeiten, und ich bin einigermaßen froh, dass man hier in Deutschland nicht von so einer Willkür der Macht abhängig ist.

Timm: Interessantes Phänomen: Man kriegt den Spagat nicht hin, aber man tut so, weil man ihn zeitweilig ausblenden muss. Ist das typisch für Russland?

Ostermeier: Ja, also ich glaube, eine Erfahrung, die ich hatte in der Zeit, war immer wieder, dass ich fasziniert davorstand, wie die russischen Kollegen es schaffen, bestimmte Teile der Wirklichkeit komplett auszublenden und sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber ich glaube, dass man das über die Dekaden Sowjetunion und jetzt Post-Sowjetunion einfach verinnerlicht hat, sonst kann man da gar nicht weiterleben.

Timm: Der Regisseur Thomas Ostermeier ist zu Gast im "Radiofeuilleton". Seine Inszenierung von "Fräulein Julie" wird nach der Moskauer Premiere im Dezember heute und morgen in Berlin gezeigt. Ich muss mal ganz simpel fragen: Kurz vor Weihnachten, draußen wurde demonstriert, im Theater wurde geprobt - waren die Schauspieler überhaupt immer da?

Ostermeier: Diese drei Schauspieler waren immer wieder auch vor der Frage - Tschulpan zum Beispiel wurde auch gebeten, auf der großen Demo, auf der ersten sehr großen Demo, wo die staatliche Gewalt sich ja zurückgehalten hat, auch eine Rede zu halten, hat sich sehr lange damit geplagt.

Andere Schauspieler dieses Theaters - nicht die Drei, mit denen ich gearbeitet habe, waren bei der etwas kleineren Demonstration, wo es zu Gewalt gekommen ist, die ins Gefängnis gekommen sind, wo jemandem der Arm gebrochen wurde - das waren schon sehr, sehr schwierige Zeiten.

Timm: Es schwappt schon rein?

Ostermeier: Das war immer präsent, das war die ganze Zeit auf den Proben präsent, aber zum Glück hatten wir ja mit der Entscheidung für dieses Stück damit ja einen Stoff, der genau über diese Probleme erzählt - jetzt nicht zwingend über Macht oder Demokratie, aber mit einem Problem sich auseinandersetzt, und das ist die soziale Ungleichheit, die wesentlich brutaler ist in Russland als hier in Deutschland, und das ist ein Problem, mit dem sich alle derzeitigen, aber auch zukünftigen Machthaber in Russland auseinandersetzen müssen.

Timm: Herr Ostermeier, lassen Sie uns über Moskau sprechen. Sie sind sechs Wochen lang täglich durch die Stadt gegangen, U-Bahn gefahren, essen gegangen. Wie haben Sie diese Stadt erlebt?

Ostermeier: Man hat immer noch ein bisschen das Gefühl, was man eigentlich so aus Sowjetzeit oder auch vor langer, langer Zeit aus der DDR noch kennt, das es doch eine ziemlich gedrückte, fast möchte ich sagen, etwas deprimierte Atmosphäre ist, wenn man den Leuten, die morgens zur Arbeit gehen, da ins Gesicht guckt.

Und auf der anderen Seite dann dieser Tanz auf dem Vulkan in einigen Orten, in wenigen Orten dieser Stadt, im Nachtleben, wo die wenigen Reichen, die es irgendwie geschafft haben, an Reichtum ranzukommen, oder an Geld oder Bodenschätze ranzukommen, ihren Reichtum sehr ausgiebig und ohne jede Scham zur Schau stellen. Und ich habe ein bisschen das Gefühl, dass es eine extrem - also auch noch in den öffentlichen Bereichen - eine extrem militarisierte Gesellschaft ist, also eine extrem auf Autorität ausgerichtete.

Der Oberste muss es entscheiden, und auf den unteren Etagen herrscht immer eher so ein bisschen Kommis-Stimmung, also so: Solange der Chef nicht da ist, die Beine hochlegen, und wenn er es mitkriegt, dann wird man angebrüllt, und dann bewegt man sich mal für eine halbe Stunde, und dann kann man aber wieder den Tag etwas ruhiger angehen. Also das, was in den westlichen Gesellschaften sich in den letzen Jahren so ein bisschen mehr durchgesetzt hat, so eine gewisse - Stichwort flache Hierarchien, Teamfähigkeit, alle Verantwortung für das Gesamte übernehmen, das ist in dieser Gesellschaft auf einen, der ganz oben sitzt, ausgerichtet, und der entscheidet, und der übernimmt die Verantwortung für die anderen, und die da drunter scharen sich so ein bisschen.

Also es gibt ja nicht umsonst diese Ausdrücke wie Väterchen Russland oder das Zaristische, auch diese Sehnsucht nach einem starken Mann wie Putin oder noch Schlimmerem, wie Schirinowski. Da drückt sich ja auch etwas aus, dass der Patriarch den Leuten eine Sicherheit gibt, eine Stärke gibt, dass man auf die oben schimpfen kann, dass die für alles zuständig sind, was falsch läuft, und man selber so versucht, irgendwie sein Auskommen zu finden.

Timm: Also ganz viel Uraltes im Neuen, und das sichert dann Putins Erfolg?

Ostermeier: Ja, was heißt uralt - ich würde da nicht solche Thesen machen, ob das jetzt direkt was mit Putins Erfolg zu tun hat. Uraltes im Neuen - aber so viel Neues ist das nicht, sondern es ist ja eigentlich eine Reinstallation dieses Zaristischen. Aber das Zaristische war ja auch im Stalinistischen bestimmt noch vorhanden, und ich finde es einigermaßen deprimierend, dass dieses Land von 1905 und von 1917 eigentlich in einem absoluten Raubtierkapitalismus angekommen ist. Also schlimmer noch als in anderen Ländern der Welt, in denen es die Oktoberrevolution nicht gab.

Timm: Thomas Ostermeier, der Regisseur und künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne. Seine Moskauer Inszenierung von "Fräulein Julie" ist heute und morgen in Berlin zu sehen im Rahmen des Festivals internationale Dramatik. Vielen Dank und toi, toi, toi!

Ostermeier: Danke schön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Regierungsgegner in Moskau
Regierungsgegner in Moskau© dpa / picture alliance / Maxim Shipenkov
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