Rumänischer Regisseur Radu Jude

"Ich spüre ein Ansteigen des Nationalismus und Antisemitismus"

Radu Jude im Gespräch mit Patrick Wellinski · 04.02.2017
In "Vernarbte Herzen" erzählt der rumänische Regisseur Radu Jude die Geschichte eines impotenten Intellektuellen in einem Sanatorium. Mitte der 1930er-Jahre debattiert er mit anderen darüber, was alles Schlimmes passieren kann. Parallelen zu heute sind unverkennbar.
Patrick Wellinski: Können Sie sich erinnern, wann Sie zum ersten Mal was von Max Blecher gelesen haben? War das, um dieses Projekt vorzubereiten oder ist es schon länger her?
Radu Jude: Es gab zwei verschiedene Momente. Ich habe ihn als Teenager entdeckt, ich las seine Bücher und habe sie dann wieder vergessen – bis mich vor drei oder vier Jahren ein Freund fragte, ob ich nicht mal einen Film machen wolle, der auf dem Werk dieses Autors basiert. Ich sagte, ja, das ist eine gute Idee, ich werde ihn noch mal lesen. Das habe ich gemacht und war beeindruckt. Für die Zuhörer, die vielleicht nicht wissen, wer Max Blecher ist, sage ich nur kurz, dass er ein rumänisch-jüdischer Autor der 30er-Jahre ist. Er ist sehr jung im Alter von 29 Jahren an Knochentuberkulose gestorben und seine drei Bücher handeln vom Leiden, von Krankheit, vom Tod, auf sehr tiefgehende und gleichzeitig leichte Art und Weise. Für die rumänische Literatur ist er wie ein Juwel. Er war über 60 Jahre vergessen, wurde dann Stück für Stück wiederentdeckt und seine Werke sind weltweit übersetzt worden, auch in Deutschland.
Wellinski: Ja, in der Tat, alle seine Bücher sind auf Deutsch erschienen. Sie haben sich jetzt für ‚Scarred Hearts‘ entschieden, vernarbte Herzen, einen sehr autobiographischen Roman von ihm. Was hat sie an diesem Buch überzeugt?
Jude: Einmal die Tatsache, dass er sehr direkt und detailliert anspricht, wie ein junger Mann mit Leiden und Krankheit umgehen kann. Wie Sie sagten, es ist autobiographisch und ich bin immer wieder beeindruckt, wie Blecher auf etwas reagiert hat, das uns allen hätte passieren können. Zum anderen liegt es an meinem persönlichen Interesse für das Phänomen dieses starken Anstiegs der extremen Rechten in den 30er-Jahren. Das ist ein Thema, über das in Rumänien nicht wirklich gesprochen wird. Nach dem Krieg entschied die kommunistische Diktatur, das irgendwie zu vergessen, um zu verhindern, dass gesagt würde, dass Rumänien jemals etwas gegen die Sowjetunion gehabt haben könnte, die damals natürlich das sozialistische Rumänien kontrollierte. Die offizielle Geschichtsschreibung war immer die, dass Rumänien auf der Seite der Sowjetunion gestanden habe, sie vergaß sogar die Tatsache, dass Rumänien im Krieg mit Nazi-Deutschland zusammengearbeitet hatte. Diese Mentalität herrschte auch weiterhin vor. Für mich war es als Teenager ein Schock, als ich von diesem Antisemitismus und der extrem rechten Politik der 30er- und 40er-Jahre erfuhr. Ich wollte diese beiden Aspekte zusammenbringen, die Geschichte dieses Mannes und seiner Krankheit und die Geschichte der rumänischen Gesellschaft und ihrer Krankheit.
Wellinski: Als wir uns getroffen haben, um über Ihren vorigen Film "Aferim" zu sprechen, sagten Sie mir, dass Sie Filme machen, damit man Rumänien besser verstehen kann. Ist das bei "Scarred Hearts" auch der Fall?

"Pflicht, die dunklen Flecken der Geschichte zu erforschen"

Jude: Ich würde das jetzt nicht mehr so sagen. Eher, dass das Filmemachen ein Produkt des Versuchs ist, mein Land und unsere Gesellschaft zu verstehen, wo unsere Probleme herrühren. Wenn man sich so wie ich für die Vergangenheit interessiert, ist es meines Erachtens eine moralische Pflicht, die dunklen Flecken der rumänischen Geschichte zu erforschen, weil eine solche Untersuchung auf offizieller Ebene eben nicht stattfindet. Es ist frustrierend zu sehen, was alles vor uns versteckt wurde.
Wellinski: Die Hauptfigur selber ist auch etwas ganz Besonderes und ich glaube, dass Sie ein Regisseur sind, der sich selber gerne Herausforderungen setzt. Ich mache zwar keine Filme, aber wenn ich einen Protagonisten hätte, sollte der sich doch bewegen – und Sie haben da einen Protagonisten, der fast die ganze Zeit liegt. Legen Sie sich die Latte gerne hoch, oder war das eine Idee, die während des Arbeitsprozesses aufkam?
Jude: Den Begriff "Herausforderung" würde ich nicht gebrauchen, eher "Veränderung". Ich mag Ungewohntes, auch weil ich definitiv kein Regisseur bin, der eine Vision hat, wie Kino oder Leben zu sein haben, und der dann für immer auf die gleiche Art und Weise arbeitet. Ich bewundere zum Beispiel den japanischen Regisseur Yasujiro Ozu sehr. Alle seine Filme sehen gleich aus und sie sind alle großartig, ich habe absolut nichts dagegen, aber ich verändere mich permanent, ich stelle mich auf die jeweilige Zeit ein, und muss auch auf die neuen Ideen reagieren, die ich habe. Sie haben Recht in dem Punkt, dass es wirklich etwas seltsam war, am Set den Hauptdarsteller während des gesamten Drehs nicht bewegen zu können. Aber dann dachte ich, das ist ja eben diese Geschichte, die Geschichte eines Mannes, der sich nicht bewegen kann, weil er krank ist und im Krankenhaus sein muss. Dieses Statische, die Unmöglichkeit, sich zu bewegen, sollten also auch Thema des Films sein.
Wellinski: Der Protagonist befindet sich in einem Korsett, so wie die Zeit sich auch in einem Korsett befindet, aber auch Ihre Bilder sind in einem Korsett, oder? Die Ecken sind so seltsam rund, stimmt das?
Jude: Ja, das stimmt. Das ist aus zwei Gründen so: einmal sieht das Motiv tatsächlich so aus, wenn man das ganze Bild in seinem 35mm-Film-Rahmen zeigt, der Ausgang der Kamera sorgt für diese "runden Ecken", wenn man die nicht will, muss man andere Mittel nutzen, um sie zurecht zu schneiden. Aber diese runden Ecken geben einem irgendwie die Idee einer künstlichen, neu erschaffenen Vergangenheit. Dafür wollte ich sie im Film behalten. Man sieht sie oft bei alten Stummfilmen, die nicht fürs Fernsehen zurechtgestutzt worden sind, am Anfang des Kinos gab es diese runden Ecken sehr häufig und diese Ästhetik wollten wir ein bisschen nachempfinden.
Wellinski: Das sieht sehr schön aus. Wenn man den Protagonisten sieht und hört, wie er über das Leben und über die Freiheit redet, fragt man sich, was in seinem Kopf vorgeht, vielleicht – schließlich ist es von Blecher – ist er ein Romantiker? Aber er ist nicht wirklich ein Romantiker, er hat eine ganz andere Auffassung von Freiheit. Können Sie etwas zum Weltbild der Hauptfigur sagen?
Jude: Blecher war, glaube ich, kein Romantiker, sondern Existenzialist, was eher etwas post-Romantisches ist. Aber er war einer mit einer romantischen Ader. Ich würde ihn als einen Existenzialisten in der Art von Kierkegaard oder der französischen Autoren jener Zeit bezeichnen – es war eine Mode und er war Teil dieser Strömung. Ich wollte alle diese Elemente dabei haben, auch wenn ich nicht mit allen einverstanden bin, einige würden meiner eigenen Struktur entgegenstehen. Das war in der Tat eine Herausforderung, das Denken und die Ideen einer Person wiederzugeben, die nicht genau den eigenen entsprechen.
Wellinski: Er scheint auch ziemlich dogmatisch zu sein, es gibt diese Lücke zwischen Liebe und Existenzialismus – es gibt ja eine Liebesgeschichte, und da haben wir wieder die verschiedenen Ebenen, er ist impotent und kann sich nicht bewegen, und er kann auch nicht richtig lieben, weil er nicht nach seinen Gefühlen zu dieser Krankenschwester oder Pflegerin handeln kann…

"Ich betrachte mich selber als Zyniker"

Jude: Das stimmt. Es trifft wohl auch auf die menschliche Natur allgemein zu, dass man bestimmte Ideen oder Vorstellungen haben kann und plötzlich passiert etwas und stellt das eigene Leben vollkommen auf den Kopf. Ich betrachte mich selber als Zyniker, aber wenn ich mich verliebe, werde ich zum Gegenteil davon, bekomme plötzlich Selbstmitleid… Ich glaube also, dass dieser Widerspruch in allen Menschen existiert, also auch bei dieser Roman- und Film-Figur.
Wellinski: Vielleicht gehe ich hiermit zu weit – Sie können einfach "nein" sagen – aber als ich "Aferim" gesehen habe und wenn ich jetzt "Scarred Hearts" sehe, da reden Sie über Rumänien, die Wurzeln des Nationalismus, der Rassismus, aber Sie reden auch über das heutige Europa. Ich sehe Ihre Filme natürlich aus der heutigen Perspektive und bin kein Rumäne – und wenn ich Intellektuelle in einem Sanatorium liegen sehe, wie sie impotent darüber reden, was alles Schlimmes passiert, und dass nichts dagegen gemacht werden kann, dann erinnert mich das an unsere Zeit heute.
Jude: Ja, das ist seltsam. Das Skript wurde vor drei Jahren geschrieben, als diese Dinge noch nicht so offensichtlich waren, wie sie heute erscheinen. Das ist wohl einfach nur ein Zufall. Ein weiteres trauriges Zusammenspiel ist, dass Rumänien immer noch ein demokratisches Land voller Korruption ist, zwar in gewisser Hinsicht sicher, aber ich weiß nicht, was passieren wird. Ich spüre ein Ansteigen des Nationalismus und Antisemitismus, vielleicht auch nur, weil mich diese Phänomene interessieren. Etwas, das gleichzeitig lustig und beunruhigend ist: mein Name ist Jude, was auf Deutsch Jude heißt, und man hat in Rumänien vermutet, dass ich Jude sei, obwohl ich es nicht bin. Ich wurde in der nationalistischen Presse attackiert – nicht wegen dieses Films, sondern wegen früherer Filme. Dann handelt mein nächstes Projekt vom Mord an über 20.000 Juden durch die rumänische Armee im Jahr 1941. Allein das Thema des neuen Films zu erwähnen, brachte mir Hunderte von Kommentaren in dieser Presse ein, "Dieser Jude gehört getötet" usw. – es ist schon ziemlich besorgniserregend zu sehen, wie viele Leute einen umbringen möchten, nur weil man einen Film über dieses Thema drehen will. Aber ich hoffe, dass Rumänien nicht in diese Muster zurückfällt.
Wellinski: Wenn wir über das rumänische Kino sprechen, reden wir natürlich auch über die neue Welle der letzten 15 Jahre. Würden Sie sich selber zu dieser Welle dazuzählen und gibt so etwas wie ein Gruppengefühl unter diesen Filmemachern? Oder sehe ich das falsch?
Jude: Nein, nein, das sehen Sie nicht falsch. Ich sehe mich schon als Teil dieser Gruppe, die angefangen hat, Dinge in der rumänischen Gesellschaft zu hinterfragen, ich mache das auch – mit meinen eigenen Mitteln. Obwohl ich glaube, dass jeder Künstler nur für seine Individualität gesehen werden möchte und nicht als Teil einer Welle, weil ihm das ein Stück seiner Genialität rauben könnte. Das gilt so nicht für mich – ich sehe mich schon als Teil dieser Welle. Man kann Leute aber natürlich nicht ausschließlich einer Gruppe zuordnen, da es ja auch noch diese negativen Dinge gibt, die die Kunst in einem Menschen hervorrufen kann, wie Individualismus, der zu Egoismus wird, oder Narzissmus, am Ende macht doch jeder sein Ding, und das Gefühl zu einer Gruppe zu gehören ist nicht so groß.
Wellinski: Vielen Dank für Ihren Film und für Ihre Zeit. Ich wünsche Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal.
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