Rucht: Festhalten am revolutionären Modell

Dieter Rucht im Gespräch mit Jürgen König · 22.06.2009
Zu den "Action Weeks" hatte ein linkes Bündnis europaweit mobilisiert. In Berlin wurde versucht, den stillgelegten Flughafen Tempelhof zu besetzen, Autos anzuzünden oder Anschläge auf Behördengebäude zu verüben. Die Gruppen hätten "die Vorstellung, man könnte diesen Kapitalismus in toto beseitigen", so der Berliner Soziologe Dieter Rucht.
Jürgen König: Gestern gingen in Berlin die "Action Weeks against Gentrification" zu Ende, die Aktionswochen gegen die gezielte Aufwertung und Verteuerung des Wohnumfelds in Berlin. Zu diesen linksautonomen Aktionstagen hatte ein linkes Bündnis europaweit mobilisiert. Sogenannte Workshops und ein Training für die Massenbesetzung des stillgelegten Flughafens Berlin-Tempelhof waren vorgesehen. Diese Besetzung konnte ein Großaufgebot von Polizei verhindern, andere Aktionen wie das Anzünden teurer Autos oder auch Anschläge auf Behördengebäude, die fanden statt. (...) Unser Gast im Studio ist Professor Dieter Rucht, Soziologe und Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Dieter Rucht gilt als führender Experte im Bereich der Bewegungsforschung, ist Co-Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa. Guten Morgen, Herr Rucht!

Dieter Rucht: Guten Morgen, Herr König!

König: Fangen wir bei dem Anfang an. Es heißt, zu diesen linksautonomen Aktionstagen hätte ein linkes Bündnis europaweit mobilisiert. Von wem, was ist das für ein Bündnis?

Rucht: Ich kenne jetzt nicht das Innenleben dieses Bündnis, aber es gibt ja ähnliche Muster aus der Vergangenheit, über die man einiges weiß. Das sind in der Regel sehr locker strukturierte Gruppierungen, das heißt, da gibt es zwei, drei Leute, die eine Initiative ergreifen, sich einen Namen geben und dann ein Umfeld mobilisieren, das eigentlich politisch in sich sehr differenziert ist. Die Bezeichnung "Autonome" für das Ganze, was hier sich tut und tummelt, ist nicht zutreffend. Die Autonomen sind nur ein Teilbereich dieses größeren, linksradikalen Spektrums.

König: Nun kreisen wir diesen Begriff…oder benutzen wir diesen Begriff jetzt mal für das, was sich in Berlin "die Autonomen" nennt. Wir haben ja eben einige Ausschnitte gehört aus den Diskussionen, die da in Berlin in den letzten Tagen und Wochen geführt wurden. Manche Berliner können das Wort "Autonome" nicht mehr hören, die sprechen nur von Randalierern und Chaoten. Für andere sind das Vorkämpfer, letzte Vorkämpfer für die Freiheit, für den Kampf des Einzelnen gegen die Ausbeutung durch den kapitalistischen Staat. Wo würden Sie die Autonomen ansiedeln?

Rucht: Die Autonomen sind eine spezielle Gruppe innerhalb des größeren Feldes der Linksradikalen, und zwar eine Gruppe, die sich nach verschiedenen Richtungen erst mal abgrenzt, und zwar nach linken Richtungen hin auch, nach rechts ohnehin. Einerseits erfolgt die Abgrenzung hin zum moderaten, reformistischen Lager, wie das genannt wird, das wären etwa die moderaten Teile der Gewerkschaften, das wäre auch noch der linke Flügel der SPD, dazu gehören im Grunde auch die Linkspartei und die Grünen insgesamt. Es gibt aber auch die Abgrenzung hin zu kommunistischen, kaderorientierten, eher an Parteidisziplin orientierten Gruppierungen, auch mit denen wollen sie nichts zu tun haben, mit den Leninisten oder gar Stalinisten, die es noch vereinzelt gibt, auch den Maoisten. Und Kennzeichnung dieser Autonomen ist, dass sie einerseits immer noch an einem revolutionären Modell festhalten: Die Gesellschaft soll als kapitalistische überwunden werden, aber zugleich soll das durch dezentrale, basisnahe Aktionen, Organisationsformen passieren, bei denen auch die Subjektivität von Politik - also nicht die Einordnung, die Unterordnung unter die Führer, sondern die Selbstorganisation, die Dezentralität, eine Art von Graswurzeldemokratie - eine Rolle spielen soll. Ob das jetzt in der Praxis so ist, ist eine andere Frage.

König: Das heißt also,…Mir kam jetzt eben das Wort "Weltrevolution" in den Sinn. Stecken dahinter immer noch gesellschaftsverändernde Ziele und Kämpfe, die wir ja seit Jahrzehnten erlebt haben?

Rucht: Ja, in der Tat. Diese Gruppen predigen immer noch ein revolutionäres Konzept, vielleicht nicht die Revolution über Nacht, die dann unter Umständen auch mit Gewehrläufen herbeigeführt wird, aber doch die Vorstellung, man könnte diesen Kapitalismus in toto beseitigen und eine völlig andere, freie gesellschaftliche Assoziation - womöglich auch noch ohne Staat - an ihre Stelle setzen.

König: Wir haben ja nun die letzten Jahrzehnte alle mehr oder weniger geistig wach erlebt. Kann es da nicht auch vorstellbar sein, dass man mal als linker Weltrevolutionär zu dem Punkt kommt, zu sagen: Diese Kämpfe sind gefochten und sie haben nicht funktioniert, wir müssen uns etwas Neues ausdenken?

Rucht: Ja, vor der Frage stehen natürlich Einzelne aus diesem Umfeld der Autonomen. In der Tat ist es ja so, dass es in der Regel keine lebenslange Einbindung ist, sondern es ist eine Durchgangsstation. Man durchlebt es so mit Peers, mit Gleichgesinnten als enge, verschworene Gemeinschaft für einige Jahre, und häufig ist es dann so, dass durch die Einbindung in einen Beruf, durch Vaterschaft, durch Familie die Leute wiederum in anderen Bahnen stecken und dann diese politische Aktivität aufgeben. Aber es gibt auch einzelne sogenannte Altautonome, die dann noch im Alter von 40 und 50 immer noch auf die Barrikaden gehen wollen und im Grunde ihre geschlossene, revolutionäre Welt weiterhin pflegen.

König: Auf welchen Theorien, auf welchen politischen Ideen basiert das?

Rucht: Das ist im Grunde ein Gemisch aus unterschiedlichsten Quellen. Dazu gehört einerseits Marx, auch ein Stück Lenin, dazu gehören aber auch libertäre und anarchistische Denker, Kropotkin, und da mischen sich also diverse Strömungen. Abgelehnt, das habe ich schon betont, ist eindeutig eine politische Organisationsform, die sehr hierarchisch, sehr strikt ist, sehr auf Disziplin setzt. Der Einzelne soll mit seinen subjektiven Bedürfnissen sich in der Politik und im Privatleben entfalten können, soweit die Theorie.

König: Und was wir in Berlin erlebt haben, da ging es ja nun um ganz konkrete Ziele, nämlich eine Demonstration, um aufmerksam zu machen auf die Verteuerung des Wohnumfeldes in manchen Stadtbezirken, wodurch - wie es so schön heißt - sozial Schwache womöglich verdrängt werden aus diesen Bezirken. Wie lässt sich das eingliedern in das große Theorem, wie Sie es eben geschildert haben?

Rucht: Die Autonomen merken natürlich, dass sie mit Revolutionsparolen und solchen Sprüchen im Grunde bei der "Normalbevölkerung", jetzt in Anführungszeichen, nicht landen können. Insoweit sind sie immer darauf verwiesen, sich an konkrete Auseinandersetzungen zu heften. Oft ist es dann gar nicht ihre Initiative, sondern es ist oft die Initiative anderer, zum Beispiel geht es da auch um Stadtumstrukturierung, um die Anliegen von Mietern, und wenn solche Auseinandersetzungen in Gang gesetzt sind, dann heften sie sich oft an diese Auseinandersetzung und wollen dadurch im Grunde den Kontakt zu den Normalbürgern, der Normalbevölkerung auch gewinnen. Es ist zum Teil auch ein instrumentelles Verhältnis zu diesen politischen Auseinandersetzungen: Sie werden genutzt als Hebel, um das große revolutionäre Anliegen ein Stück weiterzutreiben.

König: Und das Anzünden von Autos ist in welcher Weise Teil des Kampfes?

Rucht: In der Interpretation der Aktivisten ist das der Versuch, a) symbolisch und b) auch real, praktisch, zu verhindern, dass Viertel, die zunächst mal eine gemischte Wohnbevölkerung haben, aufgewertet werden und am Schluss dann von reichen Leuten, von Ladenketten, die international gemanagt werden, gleichsam in die Regie genommen werden. Aber es ist im Grunde ein Ausdruck der Hilflosigkeit und man trifft ja Leute, die mit den konkreten Vorgängen nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.

König: Welche Zukunft geben Sie den Autonomen?

Rucht: Die Autonomen, die ja eine Hochphase hatten in den 80er-Jahren, in den frühen 90er-Jahren sind im Grunde am Niedergehen, ungeachtet der Tatsache, dass sie immer wieder mal auftreten, zum Teil auch in einem sogenannten schwarzen Block präsent sind. Das heißt: Die Dynamik hat schon weitgehend nachgelassen, auch die Zahlen, die in der Vergangenheit zustande kommen, haben nachgelassen. Es ist ein Zerfallsphänomen, würde ich sagen, Zerfallsprodukt der 80er-Jahre, das aber eine gewisse Zählebigkeit noch aufweist.

König: Vielen Dank. Die "Action Weeks" der Autonomen in Berlin, ein Gespräch mit Professor Dieter Rucht, Soziologe und Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
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