Rosa: Verkaufsoffener Sonntag raubt uns ein Stück Muße

Hartmut Rosa im Gespräch mit Joachim Scholl · 22.06.2009
Der Zeitforscher Hartmut Rosa wendet sich strikt gegen Ladenöffnungszeiten am Sonntag. Wenn man dann auch einkaufen könne, werde der Sonntag den anderen Tagen immer ähnlicher. Wir unterliegen aber kollektiven Rhythmen, so Rosa, und bräuchten deshalb zur eigenen Entlastung einen einkaufsfreien Sonntag. "Es fühlt sich anders an, wenn Sie morgens aufstehen und die Geschäfte sind geöffnet".
Joachim Scholl: Morgen wird in Karlsruhe am Bundesverfassungsgericht eine Klage der Kirchen gegen eine Lockerung des Ladenschlussgesetzes verhandelt. Am Telefon begrüße ich jetzt Hartmut Rosa von der Universität Jena. Er erforscht das Phänomen der Zeit und stellt sich in der Sonntagsfrage an die Seite der Kirchen. Guten Tag, Herr Rosa!

Hartmut Rosa: Hallo, Herr Scholl, ich grüße Sie!

Scholl: Am siebten Tage sollst du ruhen, so sprach der Herr. Das tut der moderne Mensch inzwischen keineswegs. Der Sonntag ist in der Regel ein Tag breiter Aktivität. Sport, Kultur, Freizeit, Ausflug, alles Mögliche machen wir am Sonntag, nur einkaufen können wir nicht. Was wäre denn gerade daran so schlimm?

Rosa: Ja, das ist eine interessante Frage. Ich denke, Einkaufen ist eindeutig ein Teil einer ökonomischen Aktivität, und wir haben bisher den Sonntag freigestellt eigentlich von der Sphäre der Ökonomie, weil alle anderen Tage werden im Wesentlichen dominiert von ökonomischen Handlungen - also einerseits dem Arbeiten, dem Produzieren, aber natürlich auch dem Konsumieren, dem Kaufen. Und den Sonntag haben wir bisher sozusagen kulturell, aus kultureller Verbindlichkeit anderen Aktivitäten gewidmet - all den Dingen, die Sie aufgezählt haben. Wir können uns da sportlich oder kulturell betätigen, uns um Familie oder Freunde kümmern, viele andere Dinge tun, aber bisher eben ist das eine Sphäre, die nicht Kaufen und Konsumieren, also nicht Kaufen und Produzieren gewidmet war.

Scholl: Das ist die Analyse des Kasus, aber was ist denn dann, wenn wir jetzt trotzdem einkaufen könnten, was würden wir denn verlieren respektive nicht gewinnen?

Rosa: Ja, ich glaube, da gibt's mehrere Probleme damit. Das eine Problem liegt darin, dass wir sozusagen die Woche entrhythmisieren, also der Sonntag wird dann noch ein Stück den anderen Tagen ähnlicher. Wir bewegen uns ohnehin auch in vielen Bereichen auf eine Gesellschaft zu, die man auch als Twentyfour-Seven-Gesellschaft beschreibt, also 24 Stunden am Tag sieben Tage die Woche sind alle Dinge gleich, wir können alles tun. Und das hat aber nicht dazu geführt, wie wir uns heimlich immer erhofft haben, dass wir nämlich ein entlasteteres, ein geruhsameres Leben führen können, sondern der Alltag moderner Menschen ist geprägt von sozusagen einem ununterbrochenen Hereinprasseln von Anforderungen, von Aufgaben, die wir glauben, erfüllen zu müssen.

Und es ist tatsächlich so, dass, wenn wir jetzt am Sonntag die Läden öffnen, das bedeutet zum einen natürlich für einen Teil der Leute, dass sie arbeiten müssen, was ein Problem für Familien zum Beispiel darstellt, auch für andere Menschen. Aber für den anderen Teil bedeutet das eben, dass es jetzt auch noch dieses ganze Feld, dieses Optionenfeld des Einkaufens gibt. Also wir würden dann, ich glaube, wir würden tatsächlich uns ein Stück Muße, ein Stück Ruhe, ein Stück Entlastung von der ökonomischen Sphäre am Sonntag rauben, indem wir dann immer wissen, wir könnten jetzt auch einkaufen.

Scholl: Aber ich bin doch ein freies Individuum, Herr Rosa, ich kann doch selbst entscheiden, ob ich einkaufen möchte oder einfach im Bett bleiben.

Rosa: Ich glaube, da liegt ein ganz großes Stück der Täuschung, weil Menschen sind zwar Individuen und sind auch in unseren Gesellschaften zum großen Teil wirklich freie Individuen, aber nichtsdestotrotz unterliegen wir auch kollektiven Rhythmen. Es fühlt sich anders an, wenn Sie morgens aufstehen und die Geschäfte sind geöffnet. Das ist ein anderes Lebensgefühl, eine andere Grundhaltung als gegenüber einem Tag, an dem sie geschlossen ist.

Ich denke, ein Hauptproblem von Menschen heute ist wirklich dieses Dauergefühl, erstens, wir haben nie genug getan, wir müssen Dinge tun, und zweitens, wir sind verpflichtet, rastlos die Optionen zu sondieren, also zu überlegen, was tun wir. Und wenn die Geschäfte zu sind, dann fällt diese Option Shoppengehen erst mal weg. Das erst macht den Blick frei für andere Möglichkeiten.

Scholl: Nun ist es in anderen, gerade auch südlichen Ländern gang und gäbe, dass sonntags die Läden von morgens bis nachts teilweise sogar auf machen, in Spanien oder Portugal, streng katholische Länder zudem, und man hat da nicht den Eindruck von gestressten, gehetzten Zivilisationsopfern, die da unterwegs sind, oder?

Rosa: Ja, das ist völlig richtig, aber Kulturen haben unterschiedlichen Techniken, mit deren Hilfe sie sich Rhythmen schaffen, den Tag oder auch die Woche und das Jahr rhythmisieren und auch zwischen Aktivität und Ruhephasen abwechseln oder zwischen verschiedenen Aktivitätsphasen. Und man muss das nicht unbedingt mittels gesetzlicher Ladenschlusszeiten tun. Sie kennen zum Beispiel in Spanien die Zeit der Siesta, die dort sehr oft, sehr häufig, sehr intensiv genutzt wird, dass dann einfach die Läden mittags, also die Geschäfte geschlossen sind oder auch die Aktivitäten zum Ruhen kommen. Also es gibt ganz verschiedene Möglichkeiten, sich einen Wochenrhythmus zu geben und auch sozusagen zwischen ökonomischen und anderen Tätigkeiten hin und her zu pendeln.

Aber in unseren Breiten sind wir dazu übergegangen, unsere kollektiven Belange auch gesetzlich und politisch zu regeln, und deshalb hat bei uns eine Änderung der Gesetzesregelungen eben eine andere Auswirkung als in anderen Ländern. Was übrigens nicht heißt, dass in diesen südlichen Ländern zum Beispiel, in südeuropäischen Ländern, nicht das gleiche Problem bestünde, nämlich einer Vergleichförmigung aller Wochentage und einer Entrhythmisierung des kollektiven Handelns.

Scholl: Also Ihrem Argument der Entschleunigung will man als Kulturmensch natürlich sofort begeistert zustimmen, aber wenn man jetzt auch mal zu den Menschen gehört, die am Sonntag durchaus arbeiten müssen zwischendurch - und die Arbeitswelt hat sich nun mal stärker eben auch auf diese freien Tage des Wochenendes ausgedehnt -, dann ist ja auch nichts hektischer, als am Samstag oder vor Feiertagen einkaufen zu gehen, bloß um alles in der Hütte zu haben, weil ich am Sonntag eben kein Pfund Butter bekomme. Ist das nicht doch ein bisschen ein, ja, ein romantisches Rückzugsgefecht, das Sie da führen, Herr Rosa, angesichts dieser auch modernen Entwicklung?

Rosa: Also ich wette, Sie haben natürlich recht, es kommt dann an anderen Orten unter Umständen zu Hetze und zu Drängerei, es ist nur eine Täuschung, zu glauben, wir würden uns des Problems entledigen, indem wir dann am Sonntag die Geschäfte öffnen. Leider wirkt sich das de facto meistens nicht so aus. Wir kommen dann trotzdem in Stress, das ändert leider nichts daran. Und Tatsache ist ja, dass die Geschäfte inzwischen samstags bis 20 Uhr auf haben, was schon eine deutliche Verlängerung ist der Einkaufsmöglichkeiten, das war noch anders, als sie um 13 Uhr vielleicht geschlossen würden.

Im Übrigen plädiere ich auch dafür zu sagen, wir brauchen doch auch einmal einen Tag, an dem wir nicht kaufen, sondern konsumieren. Ich bin der Auffassung, dass wir diese beiden Dinge in unserer Kultur zunehmend miteinander verwechseln und dass wir tatsächlich eigentlich - was für die Wirtschaft gar nicht übel ist - das Konsumieren durch Kaufakte ersetzen. Also was ich meine, ist, dass wir eigentlich, da wir nichtsdestotrotz immer noch relativ wohlhabende Gesellschaften sind, uns auch jede Menge Güter leisten können und auch tatsächlich anschaffen. Also ich denke an da viele Bücher - der Absatz der Bücher geht in die Höhe, der Absatz von Musik-CDs ist in den letzten Jahren ein bisschen eingebrochen durch andere Tonträger, aber zum Beispiel der Absatz von Keyboards oder Tennisschlägern oder Teleskopen. Und diese Dinge müssten wir ja eigentlich irgendwann auch konsumieren.

Scholl: Das heißt, wir müssen sie benutzen?

Rosa: Ja, und ein Buch ist erst konsumiert, wenn ich's gelesen habe, nicht wenn ich's mir ins Regel stelle. Und 'ne CD, wenn ich sie gehört habe, und ein Teleskop, wenn ich damit durchgucke. Und das Erstaunliche ist eigentlich, dass wir wirklich eine zunehmende Verschiebung sehen können. Die Kaufraten steigen. Wir kaufen auch viel mehr Kleider und viel mehr Lebensmittel, aber wir können gar nicht mehr konsumieren. Das hängt auch damit zusammen, dass Kaufen blitzschnell geht. Also wenn ich nicht viel Zeit habe, wie Sie sagen, ich muss sonntags arbeiten, hätte ich im Prinzip die Wahl, ein Buch zu lesen oder aber schon einmal im Buchladen vorbeigucken, was es Neues gibt, und mir ein, zwei, drei schöne, neue Dinger mitzunehmen.

Also ich würde dafür plädieren, den Sonntag tatsächlich dem Konsum zu öffnen und nicht dem Kaufen. Das würde heißen: Warum sollten wir nicht kollektiv den Sonntag dem Konsumieren widmen, also wir lesen da die Bücher, wir gucken wirklich mal in die Sterne, wir spielen Tennis oder üben Klavier. Ich glaube, da würden wir die Kultur insgesamt damit besser machen. Und es ist einfach eine Täuschung, zu denken, man könnte die Zeitknappheit, die Sie beschrieben haben, dadurch geringer machen, dass man die Optionenvielfalt erhöht.

Scholl: Am Sonntag bleibt der Laden dicht. Dafür ist Hartmut Rosa, Zeitforscher von der Universität Jena. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Rosa!

Rosa: Gern geschehen.