Ronen Steinke über sein Buch "Der Muslim und die Jüdin"

Durch einen Schleier vor dem Holocaust gerettet

Autor Ronen Steinke bei einer Diskussionsveranstaltung
Im Gespräch: Der Autor Ronen Steinke © imago/Uwe Steinert
Ronen Steinke im Gespräch mit Florian Felix Weyh  · 02.12.2017
Ein muslimischer Arzt aus Ägypten rettet ein jüdisches Mädchen vor den Nazis - mitten in Berlin. Darüber schreibt Ronen Steinke in seinem neuen Buch. Wir fragen ihn: Wie einzigartig war diese Geschichte? Und wie denken die Nachfahren des Ägypters darüber?
Berlin sei in den 20-er Jahren für junge Araber ein "unheimlich attraktiver Ort" gewesen, sagt Ronen Steinke. Viele seien zum Studieren in die deutsche Hauptstadt gekommen, wo man politisch habe frei reden können. Es sei ein reiches kulturelles Leben entstanden: Exilaraber hätten Lesungen und Kulturabende abgehalten und die "Hautevolee der Berliner Gesellschaft" in ihre Moschee eingeladen. So sei auch eine große Nähe, eine "Wahlverwandtschaft" zwischen Juden und Muslimen entstanden:
"Es war eine Zeit, in der der Orient sehr positiv besetzt war, gerade bei jüdischen Intellektuellen und Bohemiens - und das hat die besten Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich gerade die Türen von jüdischen Familien geöffnet haben für diese arabischen Gäste."

Das Husarenstück des ägyptischen Arztes

Und das galt im Fall des ägyptischen Arztes Mohamed Helmy auch umgekehrt: Er tarnte die junge Jüdin Anna Boros als arabische Verwandte - als sie 1942 deportiert werden sollte. Ein "Husarenstück", findet Steinke. Gegen Muslime seien die Nazis nicht vorgegangen. Im Gegenteil: Sie hätten die arabische Welt geradezu umschmeichelt, von der sie sich ein Bündnis gegen die Briten und Franzosen erhofften.
Als bislang einziger Araber ist Mohamed Helmy als "Gerechter unter den Völkern" von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt worden. Eine Tatsache, die Helmys Nachfahren alles andere als stolz macht, wie Steinke herausfand:
"Die Sorge in seiner Familie war: nützlicher Idiot in einem (…) zionistischen Propaganda-Stück zu sein. Das ist tragisch, dass diese menschliche Geste, diese ausgestreckte Hand von Yad Vashem ausgeschlagen wurde aus politischem Misstrauen. Das ist bezeichnend für das toxische politische Klima im Nahen Osten."
(bth)

Das Interview im Wortlaut:

Florian Felix Weyh: Emil Ludwig, wir haben es gehört, lebte als prominenter Autor schon lange in der Schweiz, als die Nazis seine Bücher verbrannten. Und sein amerikanisches Exil verlief vergleichsweise komfortabel. Die junge Jüdin Anna Boros saß dagegen in Berlin fest wie Abertausende andere. Doch sie überlebte den Naziterror, weil sie von unerwarteter Seite Hilfe bekam, einem ägyptischen Arzt nämlich. Über diese Geschichte hat Ronen Steinke ein Buch geschrieben: "Der Muslim und die Jüdin". Und er ist jetzt ins Studio gekommen, guten Morgen, Herr Steinke!
Ronen Steinke: Guten Morgen!
Weyh: Unter den Gerechten unter den Völkern, schreiben Sie, gibt es bislang schon etwa 100 Muslime, vor allem vom Balkan und aus Zentralasien, aber nur einen Araber: Helmy. Wer war dieser Mohamed Helmy und wer die junge Frau, die er gerettet hat?
Steinke: Mohamed Helmy war ein junger Ägypter, der zum Medizin-Studieren nach Berlin kam, so wie viele junge Araber aus wohlhabenden Häusern in Damaskus, in Kairo nach Berlin geschickt wurden, weil die Stadt in den sogenannten Goldenen Zwanzigerjahren ein unheimlich attraktiver Ort war für die arabische Welt. Wenn man es sich leisten konnte, irgendwohin zu gehen, ins Ausland, zum Studieren, dann natürlich nicht nach London, nicht nach Paris, in die Städte der sozusagen Kolonialherrscher, sondern nach Berlin, wo man auch frei politisch reden konnte.

Orient-Begeisterung in Berlin

Schon das Deutsche Kaiserreich hat die arabischen Gäste willkommen geheißen und eingeladen, die Weimarer Republik hat das fortgeführt und hier ist ein wirklich reiches kulturelles Leben entstanden, eine kleine, aber sehr aktive Gruppe von Exilarabern, die Lesungen abgehalten haben, Kulturabende, und in ihrer Moschee die Hautevolee der Berliner Gesellschaft zu Gast hatten.
Weyh: Ich habe gelernt aus Ihrem Buch, dass es diese Community gab – ich wusste nichts davon –, gleichzeitig auch eine Art, wie soll man sagen, Orient-Sehnsucht oder Orient-Begeisterung in der deutschen Kultur, es gab auch eine Menge Konvertiten, und es gab eine Moschee, Sie haben es gesagt, am Fehrbelliner Platz in Berlin, 1923 erbaut.
Steinke: Das Erstaunliche an dieser Moschee ist, dass der Geschäftsführer ein konvertierter Jude war.
Weyh: Nicht nur das, er war auch homosexuell.
Steinke: Und er sagte von sich selber, er sei gar nicht konvertiert, sondern man könne ja Jude und Moslem sein auf einmal, das schließe sich nicht aus, das eine sei nur ein Plus zum anderen. Also es war ein Milieu, in dem eine Wahlverwandtschaft, eine Nähe zwischen Juden und Muslimen gelebt und geradezu zelebriert wurde. Es gab Dichter wie Else Lasker-Schüler, die deutsch-jüdische Lyrikerin, die vor lauter Orient-Begeisterung verkleidet als arabischer Prinz durch die Straßen von Berlin flaniert ist.
Es gibt den berühmten Romanautor Essad Bey, der zum Islam konvertierte und in sozusagen Fantasiekostümen – Pluderhosen und mit großen Ohrringen – seine Lesungen auf dem Ku'damm hielt im Café Größenwahn. Also es war eine Zeit, in der der Orient sehr positiv besetzt war, gerade bei jüdischen Intellektuellen und Bohemiens. Und das hat die besten Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich gerade die Türen von jüdischen Familien geöffnet haben für diese arabischen Gäste.
Weyh: Also wir müssen das noch mal festhalten: Eine islamische Liberalität, die nichts gegen Juden hatte, nicht antisemitisch war, sogar tolerieren konnte, dass ein Konvertit homosexuell ist und dann Geschäftsführer der Moschee wird! Das halten wir mal fest für den zweiten Teil des Gesprächs, aber noch mal zurück zu Anna Boros: Wer war dieses junge Mädchen, diese junge Frau, die er dann im Dritten Reich gerettet hat?
Steinke: Mohamed Helmy hat als nicht deutscher Arzt die besondere Situation gehabt, dass er weiterhin Juden behandeln durfte. Selbst als die Nazis an die Macht kamen und das deutschen Ärzten verboten haben, war er weiterhin ansprechbar für jüdische Patienten. Und auf diese Weise lernte er dann eine jüdische Familie kennen, die am Alexanderplatz ein Obstgeschäft hatte und deren kleine Tochter sich ein bisschen mit ihm angefreundet hat.
So eine Art Vater-Kind-Verhältnis entspann sich über die Zeit, zumal sie selber keinen eigenen Vater hatte, der war in Rumänien geblieben, als die Familie emigrierte. Dieses kleine Mädchen hat davon geträumt, Krankenschwester zu werden, ein Traum, der immer mehr unmöglich wurde, nachdem die Gestapo die Krankenschwesternschulen für jüdische Mädchen geschlossen hatte. Und so nahm Helmy, der ägyptische Arzt, der Freund der Familie, sie unter seine Flügel und förderte sie und half ihr ein bisschen.

Die Nazis machten einen Unterschied zwischen Juden und Muslimen

Weyh: Und er tarnte sie dann mittels eines Kopftuches als Muslimin.
Steinke: Das ist das eigentliche Husarenstück. Also 1942, als die Deportationen auch diese Familie erreichen, also die Deportationsbescheide bei ihnen ankommen, müssen sie entscheiden, in den Untergrund zu gehen, zu fliehen. Helmy kommt auf die geniale Idee, sie bei offenem Tageslicht zu verstecken. Er erlebt, dass die Nazis einen scharfen Unterschied machen zwischen Juden und Muslimen, während die Juden verfolgt und deportiert werden, werden die Muslime geradezu behütet.
Es gibt eine offizielle Politik des Umschmeichelns und Umgarnens, das NS-Regime erhofft sich ein Bündnis mit der arabischen Welt, mit Nordafrika, gegen die Briten, gegen die Franzosen, und tut deswegen alles, damit es den arabischen Gästen in Berlin möglichst gutgeht. Das ist die Situation, in der Helmy auf die Idee kommt, Anna einfach zu tarnen und zu verkleiden im Grunde als eine Familienangehörige von ihm, als eine Muslimin, als eine Ägypterin.
Weyh: Was Sie erzählen in diesem Buch, ist nicht nur diese private Geschichte, die Sie recherchiert haben, Sie erzählen eben auch das, was ich jetzt andeutete, das ganze Klima, das politische Klima und das Verhältnis der Deutschen zum Islam. Das finde ich sehr erhellend, wir wissen das tatsächlich nicht.
Es gab ja auch eine muslimische Division im Zweiten Weltkrieg, die kämpfte, Himmler – das ist noch bekannt – hat dem arabischen Großmufti von Jerusalem sozusagen einen eigenen Stab gegeben und in Berlin angesiedelt. Aber dass die Nazis so den Islam auch inhaltlich zum Teil versuchten zu kapern, weil sie sagten, das ist eine Religion, die liegt uns eigentlich viel näher, das ist doch sehr erstaunlich!

Muslime denken, sie hätten nichts mit dem Holocaust zu tun

Steinke: Es ist in der Tat bekannt, dass die Nazis den Großmufti von Jerusalem – einen furchtbaren Antisemiten, der also nichts gescheut hat, um Juden aus dem Nahen Osten fernzuhalten, zu vertreiben – 1941 als ihren Ehrengast in Berlin empfangen haben und ihn in ihre Dienste genommen haben, auf dass er Propaganda betreibt im Nahen Osten, mit arabischsprachigen Radiosendungen, die für die Nazis werben.
Weniger bekannt ist, dass es in Berlin damals schon längst eine gut etablierte, bürgerliche und sehr gebildete Schicht von Arabern gab, die, um es einfach zu sagen, einfach viel zu schlau waren, um auf diesen Quatsch hereinzufallen. Der Mufti kam zwar zu ihnen in die Moschee, er wurde zwar ihnen sozusagen vorgesetzt von den Nazis als neuer Schirmherr ihrer religiösen Organisation, aber wirklichen Respekt hat er sich bei vielen nicht erworben. Und viele haben im Gegenteil – und dafür ist diese Geschichte, die ich in dem Buch erzähle, ein Beispiel – die Freiheiten, die ihnen dieses Umschmeicheln der Nazis oder diese Politik der Nazis gegeben hat, genutzt, um ihre Freunde aus der jüdischen Welt zu beschützen und zu retten.
Und ich finde die Geschichte deswegen so faszinierend, weil viele junge Muslime heute in Deutschland aufwachsen vielleicht mit der Vorstellung, dass der Holocaust nichts mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat, dass es keine Berührungspunkte gibt und dass die Muslime damals da keine Rolle spielen in der Geschichte. Und diese Geschichte beweist das Gegenteil.
Genauso, wenn junge Juden heute den Eindruck haben, es gibt in Deutschland Viertel mit besonders vielen muslimischen Einwohnern, die so etwas wie No-go Areas sind für Menschen, die sich als Juden zu erkennen geben, dann ist diese Geschichte zwar kein Trost, aber immerhin zeigt sie, was möglich war und dass es noch gar nicht so lange her ist, dass das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen ein ganz anderes war.

Die ausgestreckte Hand

Weyh: Jetzt sagen Sie, sie ist kein Trost. Sie hätte als Botschaft natürlich etwas Tröstliches, jetzt kommt der Pferdefuß sozusagen, der traurige Aspekt Ihrer Recherche: Sie fahren dann ja auch zu den Nachkommen der Familien und stellen fest, dass in Ägypten und bei den arabischen Verwandten von Helmy die Ehrung in Yad Vashem ganz übel aufstößt, dass die das eigentlich gar nicht wollen, weil sie sagen, er wird vom heutigen Feind vereinnahmt.
Steinke: Die Sorge, so haben sie es ausgedrückt bei der ägyptischen Familie, war, nützliche Idioten in einem zionistischen Propagandastück eigentlich zu sein. Das ist tragisch, dass diese eigentlich ja menschliche Geste, diese ausgestreckte Hand von Yad Vashem ausgeschlagen wurde aus politischem Misstrauen.
Aber es ist eben ganz bezeichnend für das toxische politische Klima im Nahen Osten und auch dafür, wie in Ägypten, wie in vielen arabischen Nachbarländern Israels über Israel gesprochen wird. Dass der Holocaust eine Legende ist, das ist sozusagen eine Binsenweisheit in Ägypten. Wenn Rufmordkampagnen gegen Politiker gefahren werden, dann oft mit dem Argument, sie seien familiär verbandelt mit Juden. Das Klima ist also so, dass diese Geschichte leider beispielhaft dafür ist.
Weyh: Vielen Dank, Ronen Steinke. "Der Muslim und die Jüdin" heißt das Buch, über das wir sprachen. Es ist im Berlin-Verlag erschienen, 208 Seiten kosten 20 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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