Roman von Harper Lee

Amerikanische Ikone entzaubert

Über 50 Jahre nach ihrem Bestseller "Wer die Nachtigall stört" hat Harper Lee erstmals wieder einen Roman veröffentlicht.
Über 50 Jahre nach ihrem Bestseller "Wer die Nachtigall stört" hat Harper Lee erstmals wieder einen Roman veröffentlicht. © imago stock&people
Von Maike Albath · 18.07.2015
Harper Lees neuer Roman "Gehe hin, stelle einen Wächter" ist eher konventionell erzählt. Trotzdem schafft Lee eine Überraschung: Sie bringt ihren vor Jahrzehnten in "Wer die Nachtigall stört" aufgestellten Helden zu Fall.
Es ist verblüffend, wie viele verschollene Koffer und Truhen, verlorene Aktentaschen und vermisste Hefte berühmter Schriftsteller aus der Versenkung auftauchen und für Wirbel sorgen. Der Fall von Harper Lee, 1926 in Monroeville, Alabama geboren und Verfasserin des über 40 Millionen Mal verkauften Romans "Wer die Nachtigall stört", der längst als Klassiker gilt, mausert sich zu einem echten Krimi. Geschickt von Marketingaktionen flankiert, erscheint jetzt in den USA und fast zeitgleich in mehreren anderen Ländern der noch vor ihrem Debüt entstandene Roman "Gehe hin, stelle einen Wächter".
Lees Rechtsanwältin Tonja B. Carter ließ im vergangenen Winter verlauten, sie habe das Manuskript zufällig gefunden. Kürzlich berichtete die New York Times allerdings, dass eben jene Anwältin gemeinsam mit Lees Schwester Alice, einer Juristin, und Lees Agenten bereits im Oktober 2011 etliche Materialien von Southeby's begutachten ließ. Ein Experte des Auktionshauses vermutet, damals den Blätterstapel von "Gehe hin, stelle einen Wächter" in den Händen gehalten zu haben.
Marketingmaschine von Harper Lee erfolgreich
In den USA spekuliert man nun über die Gründe, die die äußerst gebrechliche Harper Lee bewogen haben mögen, den 1957 von der Lektorin zurückgewiesenen Roman ausgerechnet jetzt zu veröffentlichen. Die Rechnung ging jedenfalls auf: Startauflage zwei Millionen, Menschenschlangen vor den amerikanischen Buchhandlungen, Diskussionen in der Presse.
"Gehe hin, stelle einen Wächter" hat dasselbe Personal und denselben Schauplatz wie Harper Lees Erstling, nur ist die Handlung zwanzig Jahre später angesiedelt. Während die autobiographische Kindheitsgeschichte "Wer die Nachtigall stört" um einen aufsehenerregenden Gerichtsprozess in dem Südstaaten-Städtchen Maycomb kreist, in dem der unbeugsame Rechtsanwalt Atticus Finch einen schwarzen Mandanten gegen die Anschuldigung verteidigt, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben, geht es jetzt um die Folgen der erstarkenden Bürgerrechtsbewegung.
Die Heldin Jean Louise Finch, mittlerweile in New York beheimatet, kehrt für die Ferien nach Maycomb zurück. Zuerst ist sie geblendet von der Ursprünglichkeit der Provinz und fast so weit, ihren Jugendfreund Hank zu heiraten – doch dann muss sie entdecken, dass ihr bewunderter Vater Atticus Finch alles andere als ein fortschrittlicher, liberaler Mann ist. Er fürchtet um die Privilegien der weißen Einwohnerschaft und engagiert sich im Bürgerrat für Segregation.
Dass Schwarze volle staatsbürgerliche Rechte erhalten sollen, ist ihm ein Graus: "Willst du scharenweise Neger in unseren Schulen und Theatern? Willst du sie in unserer Welt?", fragt Atticus Finch seine Tochter. Er wolle in seinem Bundesstaat in Ruhe wirtschaften, ohne von diesem "Volk in Kinderschuhen" behelligt zu werden. Jean Louise ist entsetzt. Die Idealisierung zerbricht, sie wird endgültig erwachsen.
Zum Schluss kippt "Gehe hin, stelle einen Wächter" ins Süßliche
"Gehe hin, stelle einen Wächter" ist eher konventionell erzählt und überfrachtet mit Streitgesprächen zwischen Jean Louise und ihrem Vater, Jean Louise und ihrem Onkel, Jean Louise und ihrem Verlobten. Die Kleinstadt-Vignetten belegen Lees satirische Fähigkeiten, auch die Rückblenden lassen eine poetische Kraft erahnen, aber der Schluss des Romans ist amerikanisch-pragmatisch-versöhnlich und kippt ins Süßliche.
"Gehe hin, stelle einen Wächter" hat aber gerade heute eine beachtliche gesellschaftspolitische Relevanz: Hier zeigt sich, wie tief die Verwerfungen in den fünfziger Jahren waren. Während der tapfere Atticus Finch aus "Wer die Nachtigall" stört die idealtypische Verkörperung dessen war, was der gebildete weiße Amerikaner damals sein wollte, taucht hier ein sehr viel unangenehmerer Repräsentant der Mittelschicht auf. Auf ihre alten Tage hat Harper Lee eine Ikone der amerikanischen Kulturgeschichte zu Fall gebracht – ihren eigenen Helden.

Harper Lee: Geh hin, stelle einen Wächter
Übersetzt von Klaus Timmermann und Ulrike Wesel
DVA, München 2015
320 Seiten, 19, 99 Euro

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