Roman über die Wirtschaftskrise

Von Tilman Krause · 15.07.2005
Zu den letzten noch lebenden deutschen Autoren, die von den Nazis aus Deutschland vertrieben wurden, zählt der Psychoanalytiker Hans Keilson. 95 Jahre alt ist er inzwischen. Aber in unverminderter Frische praktiziert er noch täglich in seiner kleinen Praxis bei Amsterdam. Er hat sich auch sein Leben lang vor allem als Arzt verstanden, und sein Werk über die "sequentielle Traumatisierung" von jüdischen Waisen, deren Eltern im Holocaust umkamen, gilt als bahnbrechendes Standardwerk der Psychotherapie.
Doch Keilson hat auch ein vielgestaltiges literarisches Oeuvre geschaffen, das jetzt der S. Fischer Verlag endlich zu einer stattlichen Werkausgabe in zwei jeweils ca. 1000 Seiten starken Bänden zusammengefasst hat. Somit ist Keilsons literarisches Werk nun endgültig dort angekommen, von wo es seinen Ausgang nahm, denn Hans Keilson war der letzte jüdische Autor, der noch 1933 im alten S. Fischer Verlag debütieren konnte, mit einem Roman über die Wirtschaftskrise, am Beispiel des Geschäfts seines eigenen Vaters übrigens, der aus Bad Freienwalde bei Berlin stammte, wo auch Hans Keilson 1909 geboren wurde.

"Das Leben geht weiter" heißt dieser Roman, dem zwei weitere folgten. "Komödie in Moll", bereits im holländischen Exil entstanden, erzählt eine Geschichte aus den Tagen der deutschen Besatzung, in der ein dem Widerstand zuarbeitendes Ehepaar, das einen Untergrundkämpfer versteckt hält, erleben muss, wie dieser "ganz normal" an einer Grippe stirbt. Die teilweise "komischen" Verwicklungen ergeben sich nun daraus, dass der Mann, womit niemand gerechnet hatte, ein "ziviles Begräbnis" erhalten muss. Eine Verarbeitung von Keilsons eigenen Erlebnissen der Jahre 1940 bis 44 ist dies, denn auch er arbeitete als Kurier und Arzt für die holländische Résistance. Der dritte Roman schließlich, "Der Tod des Widersachers", 1959 erschienen, zeigt Keilson auf der ganzen Höhe seines schriftstellerischen und auch psychoanalytischen Könnens, indem er das Trauma des Antisemitismus, wiederum autobiographisch inspiriert, zu einer grandiosen Studie einfühlenden Verstehens in die Psyche eines deutschen Judenhassers gestaltet - ein schwindelerregender Versuch über das Böse, wie ihn in dieser Konsequenz wohl nur Thomas Mann mit seinem Essay "Bruder Hitler" gewagt hat.

Doch Keilson hat nicht nur Romane geschrieben. Sehr wichtig zum Verständnis seines Denkens, in das die jüdische Mystik Eingang fand wie die deutsche Romantik, sind seine Gedichte. Sie reflektieren, vor allem in den vierziger Jahren, seine langsame Entwöhnung von der deutschen Sprache und Kultur hin zu einer auch geistigen Assimilation an die neue holländische Lebenswelt. "Sprachwurzellos" ist das wohl bekannteste dieser kurzen, konzentrierten Gedichte überschrieben.
Nicht vergessen sollte man die Essays, die Keilson vermehrt seit den sechziger Jahren und bis heute zu allen nur denkbaren medizinischen, psychoanalytischen, literarischen, politischen und historischen Gegenständen publiziert hat. Zuletzt hat er aus Anlass des "Falls Schwerte", eines renommierten Germanisten, der in den neunziger Jahren als SS-Ahnenforscher entlarvt wurde, einen tiefgründigen Versuch menschlichen und auch psychologischen Verstehens unternommen, der von der überhitzten Debatte um den ehemaligen Rektor der Universität Aachen wohltuend abstach. Seit langem Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, hat Keilson vor einigen Wochen auch endlich eine überfällige Auszeichnung für sein literarisches Schaffen erhalten, nämlich den Johann-Merck-Preis für Essayistik.

Hans Keilson: Werke in zwei Bänden. S. Fischer, Frankfurt/M. 1100 S., 64,90 EURO.