Roman

Atmosphäre aus Angst und Argwohn

Ein Justizbeamter öffnet in Frankfurt am Main eine Einzelhaftzelle der neuen Justizvollzugsanstalt.
Nach 15 Jahren Haft kehrt Freddy in das kleine französische Provinzstädtchen zurück. © dpa / Arne Dedert
Von Pieke Biermann · 31.07.2014
Der kurze Roman "Ein Freund des Hauses" von Yves Ravey handelt von der Eigendynamik des Vorurteils und der Ohnmacht des besseren Wissens. Alles beginnt damit, dass Freddy aus dem Gefängnis entlassen wird.
Ein Kinderschänder und, den kargen Hinweisen nach zu vermuten, Kindermörder, kommt zurück. 15 Jahre hat er abgesessen, mit guter Führung, jetzt ist er wieder in dem kleinen französischen Provinzstädtchen, wohnt in einem betreuten Projekt und hat einen Bewährungshelfer, auch wenn er sich nicht "bewähren" muss: Freddy ist frei. Nach einer Woche taucht er bei seiner Cousine auf, mit einem zugelaufenen Hund.
Madame Rebernak ist inzwischen Witwe des Schlossers, der Freddy damals Arbeit gegeben hatte, als das mit der kleinen Sonia passierte. Sie hat eine Tochter, Clémence, und einen Sohn, dessen Namen man nicht erfährt. Und sie setzt alles daran, dass Freddy, wenn schon nicht verschwindet, wenigstens Clémence nicht zu nahe kommt.
Clémence ist in dem Alter, in dem Mädchen sich nichts mehr sagen lassen. Schon gar nicht von Müttern mit spießigen Vorschriften, zum Beispiel, dass man sich nicht dauernd von Maître Montussaint im roten Sportcoupé nach Hause fahren lassen soll, auch wenn der Papas Jagdfreund war und Maman ihm ihren Putzjob in der Schule verdankt und Papas Gewehr überlassen hat. Dass man sich lieber an dessen Sohn Paul halten soll. Und ja nicht auf Freddys Trick mit dem Hund reinfallen. Aber dann wird der Bewährungshelfer versetzt, kann Freddy nicht mehr betreut wohnen, macht Clémence Schluss mit Paul, weil der sich in Jasmine verknallt hat...
Immer wieder fehlt es an Logik
Was wird das? Der Feuilleton-Pawlow würde bei Yves Raveys "Ein Freund des Hauses" zum Etikett "mehr als ein Krimi" greifen, das Krimifans wie Krimiverächtern gleichermaßen die Lust vergällt. Gibt es eigentlich auch "weniger als ein Krimi"? Wenn zum Beispiel jede "Spoilergefahr" fehlt? Dass dieser Freddy nur ein red herring ist, ein Ablenkungsmanöver, entnimmt der französische Leser dem Originaltitel ("Un notaire peu ordinaire") und der deutsche dem Klappentext. Die Figurenpsychologie ist unterkomplex bis unplausibel; erzählt wird die Geschichte geradezu überauktorial in Ich-Form von Madame Rebernaks Sohn, der völlig schemenhaft bleibt und das meiste gar nicht wissen kann. Und immer wieder fehlt es an Logik: Etwa wenn eine Figur einen Schatten auf eine andere wirft, die aber unter einem Sonnenschirm liegt, und circumstantial realism: Dass Paul Geburtstag hat, müsste Madame Rebernak wissen, aber sie ist nur unruhig wegen der Party und löst mit ihrer Panik die fatale Entwicklung aus.
Nein, einen "Krimi" hat Ravey kaum im Sinn gehabt. Ich plädiere auf Novelle. Oder auf eine Studie über die Eigendynamik des Vorurteils und die Ohnmacht des besseren Wissen(können)s. Wieder, wie schon bei "Bruderliebe", im Stil des Film noir. Wieder in Raveys typischer HD-Prosa – mit dem leicht altmodisch-umständlichen hohen Ton, den Angela Wicharz-Lindners Übersetzung wunderbar trifft (von kleinen Konjunktivschwächen abgesehen). Wie per Kamera und Schnitt lenkt Ravey den Blick auf irritierende Details und lässt Wichtiges in vagen Totalen verschwimmen. Diese Schwebe verwickelt den Leser permanent in das Gefühl "hier stimmt was nicht!" – exakt die Atmosphäre aus Angst und Argwohn, um die es in diesem schmalen Roman geht.

Yves Ravey: Ein Freund des Hauses
Roman
Aus dem Französischen von Angela Wicharz-Lindner
Verlag Antje Kunstmann, München 2014
93 Seiten, 14,95 Euro