Roma-Rückkehrer auf dem Balkan

"Die haben meine Träume geraubt"

24:17 Minuten
Die Bewohnerin Serjana steht mit ihren Kindern am 09.04.2013 in ihrer Hütte in der Roma-Siedlung Belvil in Belgrad.
In Serbien müssen Roma in slumartigen Siedlungen leben. © dpa / Britta Pedersen
Von Petra Sorge · 21.06.2018
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Wegen des Balkankriegs flohen sie nach Deutschland: Viele Jahre waren die Roma hier, dann wurden sie abgeschoben - zurück in Länder, deren Sprache sie nicht verstehen und in denen sie unerwünscht sind. Besonders hart trifft es die Kinder.
Es zieht durch die Ritzen. In den Ecken stapeln sich Kisten. Hier sollte eigentlich Nadires Zimmer sein, sie ist 16, Teenager. Aber der Raum ist zu kalt. Eine Heizung gibt es nicht, Feuerholz ist zu teuer. Das enge Haus, in dem sie mit ihren Eltern und Geschwistern in Subotica im Norden Serbiens wohnt, hat nur sehr dünne Wände. Sie mussten billig bauen, sagt Nadire Maitovic.

Kleber soll das Fenster in der Wand halten

"Das ist einfach nur so aufgemacht und da ist das Fenster so reingekommen, mit dem Kleber halt. Weißt du, Kleber. Und draußen ist das ja alles nur mit Blöcken und Zement glattgestrichen. Aber sonst ist gar nichts. Wir müssen das jetzt mit Styropor machen, damit es verriegelt ist, und damit keine Kälte mehr reinkommt."
Familie Maitovic, die ihren richtigen Nachnamen aus Angst vor Diskriminierung nicht nennen möchte, wurde aus Deutschland abgeschoben. Eigentlich in den Kosovo, doch dann zogen sie weiter nach Nordserbien. Hier ist der Lebensstandard etwas besser. Und ein Cousin half ihnen, das kleine Grundstück zu finden, auf dem sie nun leben. Nadire fühlt sich trotzdem nicht zu Hause. Nicht in ihrem Zimmer, nicht in dieser Stadt, nicht in diesem Land, gleichgültig, ob Kosovo oder Serbien.
"Viele sagen, das ist dein Land. Aber ich kenne dieses Land nicht. Mein Land war Deutschland. Meine Heimat war Deutschland."

Verfolgt und ermordet

Nadires Familie gehört zu den Ashkali, einer Volksgruppe der Roma. Ihre Eltern flohen aus dem Kosovo, als der Krieg 1991 im früheren Jugoslawien begann. Er war für Angehörige der Roma-Minderheiten besonders schlimm: Viele wurden verfolgt und ermordet. Das Haus von Nadires Eltern wurde niedergebrannt.
Mädchen lehnt sitzend am Treppengeländer in einer Schule.
Nadire in der Erwachsenenschule "Jovan Jovanovic". Aus Angst vor Diskriminierung will sie nicht erkennbar sein. © Petra Sorge
Nadire ist in Ahaus geboren, in Nordrhein-Westfalen. So wie fünf ihrer insgesamt sechs Geschwister. Sie besuchte den Kindergarten, ging dort zur Schule. Mit neun Jahren war das zu Ende, weil die Familie abgeschoben wurde.

"Warte, bis dein Zug kommt ..."

"Die haben mir jedes Mal gesagt, du bist nicht in Deutschland, du bist im Bahnhof. Warte, bis dein Zug kommt. Das vergesse ich nie. Nie in meinem Leben."
... sagt Nadires Vater, Florim Maitovic. Dass seine Familie abgeschoben wurde, begründet der Kreis Borken mit einer Vorstrafe wegen Urkundenfälschung – Maitovic hatte laut Gericht einmal ein ärztliches Attest vordatiert. Und wegen Computerbetrugs. Das war 1995. Florim Maitovic sagt, er habe damals sein Konto um 1000 Mark überzogen.
"In Bank hab ich gesagt, ich hab dieses Geld geholt, er sagt, nee, ist nicht so schlimm. Ich sage, ja, aber ich kann jetzt nix zurückgeben. Naja, er sagt, wir machen ein Dispo oder so etwas in der Art. Und dann haben die das vergessen. Und schicken das der Polizei, Computerbetrug. Weil du Geld geholt hast, das dir nicht gehört. Und ich habe keinen Dispokredit gehabt."
Deutschland hatte nach den Kriegen in Jugoslawien und im Kosovo sehr viele Roma aufgenommen – rund 35.000 im Jahr 2003. Dass inzwischen so viele wieder abgeschoben werden, sieht der Politikwissenschaftler Stephan Müller kritisch. Er war unter anderem Programmdirektor beim European Roma Rights Centre in Budapest:

Viele Kinder unter den Zwangsrückkehrern

"Der Menschenrechtskommissar des Europarates hat in einem Bericht festgestellt, dass die kumulative Diskriminierung der Roma im Kosovo so stark ist, dass, wenn ich die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundlage heranziehe, eine Rückführung bzw. Abschiebung in den Kosovo nicht vollzogen werden sollte."
Die Abschiebungen gehen trotzdem weiter. 2017 zählte die serbische Migrationsbehörde 1891 Rückkehrer, darunter 852 Kinder. Fast alle waren Roma oder Ashkali, und die meisten kamen aus Deutschland.
Roma-Familie im mazedonischen Skopje.
Roma-Mutter mit Kindern: Die Hälfte leidet unter Depressionen© dpa / Georgi Licovski
Für die Kinder ist das besonders schlimm: Fast jedes zweite leidet nach seiner Abschiebung an Depressionen. Eine Studie von Unicef belegt das: Darin wurden mehr als 200 Minderjährige aus Deutschland und Österreich befragt, die man in den Kosovo abgeschoben hatte. Ein Viertel der Kinder gab an, schon einmal an Selbstmord gedacht zu haben. Umbringen wollte sich auch Nadires sechs Jahre ältere Schwester Hamide. Erzählt Nadire, während sie auf der Couch sitzt, im Hintergrund läuft der Fernseher.
"Wir haben sie erwischt. Sie wollte Tabletten nehmen. Ja. Sie meinte, was soll ich noch leben? Was brauche ich noch dieses Leben? Ganz genau das hatte ich auch. Mit neun. Was brauche ich noch dieses Leben?"
"Wenn es um den seelischen Zustand dieser Kinder nach ihrer Rückführung geht, ist es sehr schwer, sie so unter Stress zu sehen. Mit solch einem Trauma."
... sagt Sozialarbeiter Dzafer Buzoli von der Gesellschaft für bedrohte Völker im Kosovo, der sich um Roma-Minderheiten kümmert. Vor allem um Rückkehrer und Abgeschobene. Kinder würden unter dieser Entwurzelung am meisten leiden.

Kein Kontakt zu Gleichaltrigen

"Denn erstens sprechen sie keine der örtlichen Sprachen hier. Ich meine, wenn sie Roma sind, werden sie weder Albanisch noch Serbisch können. Die meisten von ihnen sind sogar in Deutschland geboren. Und für sie ist es sehr hart, Kontakt zu anderen Kindern hier aufzubauen. Obwohl es die Möglichkeit gibt, örtliche Sprachkurse zu besuchen, sehen sie nicht wirklich, dass das für sie eine Möglichkeit ist, sich im Kosovo zu integrieren."
Für Nadire war das Schlimmste, nicht mehr zur Schule gehen zu dürfen. Sie wollte immer Lehrerin werden.
"Mit neun sowas zu erleben, auf einmal nicht mehr zur Schule zu gehen. Ich bin aufgestanden, hab gesagt, Mama, wir müssen zur Schule. Nein, wir sind im Kosovo, hier gibt es keine Schule. Du wolltest das so sehr. Und dann nehmen die dir das. Die machen deine Kindheit kaputt. Die haben meine Träume geraubt."
Die Schulen im Kosovo und in Serbien wiesen Nadire und ihre Geschwister nicht nur wegen fehlender Sprachkenntnisse ab. Es hieß auch, dass Zeugnisse fehlen. Die sind damals während der Abschiebung abhanden gekommen. Bis heute schieben sich die Ausländerbehörde im Kreis Borken und die Familie gegenseitig die Schuld dafür zu.
Dabei dürfte das eigentlich gar keine Rolle spielen. Eine Sprecherin des serbischen Migrationsministeriums verweist auf die Gesetze des Landes:
"Alle minderjährigen Roma-Rückkehrer, wie auch alle anderen Kinder der Republik Serbien, haben Zugang zu Bildung, unabhängig von ihrem rechtlichen Status oder davon, ob sie wichtige Dokumente besitzen. Diese Politik soll den besten Interessen des Kindes dienen."

Jede Geschichte, jeder Fall von Abschiebung und Rückkehr muss einzeln angeschaut und bewertet werden. Dennoch scheint es bei Roma-Flüchtlingen einen generellen Vorbehalt der Mehrheitsgesellschaften in den einzelnen Balkan-Staaten zu geben. Woran liegt das? Ein Gespräch. Audio Player

Ein Parkplatz in Subotica. Nadires Bruder Rrhamon, 21, schiebt mit einem Besen Sand in die Ritzen zwischen den Pflastersteinen, die er gerade verlegt hat.
Als die Familie abgeschoben wurde, war er 14, ging noch zur Schule, wollte eine Ausbildung zum Mechatroniker machen. Seitdem er zurück ist, arbeitet er auf dem Bau. Verdient acht Euro pro Tag und trägt so zum Unterhalt der Familie bei.
"Ich hab damals mit 14 Jahren, als ich abgeschoben worden bin, auf ner Baustelle angefangen zu arbeiten. Keine Versicherung, kein Schutz, keine Garantie für dich, kein gar nichts. Wenn dir jetzt was zugestoßen wäre oder sonstiges, den würde es nicht interessieren, die hätten gesagt, tja, hättest du besser aufpassen müssen."

Wer Arbeit hat, dem geht es besser

Er gehört damit dennoch zu den Bessergestellten, weil er immerhin eine Arbeit hat. Das war nicht immer so. Und: es kann sich auch plötzlich wieder ändern. Eine Zeitlang lebte die Familie sogar auf der Straße – was bei vielen Roma und Ashkali der Fall ist, weiß Sozialarbeiter Dzafer Buzoli.
"Der Höchstsatz bei der Sozialhilfe hier sind 60 oder 70 Euro pro Monat für eine ganze Familie. Das ist zu wenig für jeden, der hier bleiben und leben möchte. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass die meisten Roma hier wegen der Arbeitslosigkeit Plastik, Glas und Metall sammeln. Und mit den paar Münzen kannst du nicht mal einen Tag überleben."
Familie im Porträt
Musa Hisni mit den Kindern Selina, Kadire und Cindy© privat
Die Roma-Familie Musa lebt in Fushe Kosova, einem Ort außerhalb von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo. Musa Hisni und seine Frau Bedrije waren 1999 während des Kosovo-Krieges nach Deutschland geflohen. Er arbeitete als Ein-Euro-Jobber. Sie kümmerte sich um die fünf Kinder, die alle in Deutschland geboren wurden.

Nach 13 Jahren in Deutschland abgeschoben

Einen dauerhaften Aufenthaltsstatus bekam die Familie nie. Als die Musas 2012 nach 13 Jahren in den Kosovo abgeschoben wurden, hatte die älteste Tochter, Amanda Musa, gerade ihre Realschule abgeschlossen und einen Ausbildungsvertrag als Friseurin in Aussicht.
"Wir haben in Deutschland die Schule verlassen, die Freunde, das Leben dort war ganz anders. Ich habe 'ne siebenjährige Schwester, die ist krank und hat Diabetes. Wir konnten nicht mehr zur Schule gehen, wir durften nicht mehr raus, war halt alles anders."
Dass die kleine Selina zuckerkrank ist, dass Amandas Mutter Bedrije Gallensteine hat und wegen eines Tumors behandelt wird – nichts davon war Grund genug für einen, wenn auch nur zeitweiligen, Verzicht auf Abschiebung. Alles ging so schnell, dass die Familie nicht einmal mehr Zeit hatte, einen Antrag bei der Härtefallkommission zu stellen.
"Voll Schimmel. Kein fließendes Wasser, ganz kalt, alles Holz hier oben. Wir haben keinen Ofen. Wir müssen uns vom Schrank die Bretter kaputt und Feuer machen. Wir haben kein Einkommen, keine Sozialhilfe hier. Ich weiß nicht, wovon wir leben sollen."
"Zehn Euro kostet Insulin, hier im Kosovo. Ich sammle Flaschen, Tüten, Plastik und so was, um Insulin zu kaufen für meine Tochter. Ich verdiene drei, vier Euro am Tag. Was soll ich machen?! Das ist mein Leben."
... sagt der Vater, Musa Hisni. Pech für ihn war leider, dass es das Insulin – was Diabetiker auch im Kosovo kostenlos erhalten – in diesem Jahr einige Monate nicht gab. Erklärt das Gesundheitsministerium in Pristina auf Anfrage. Die Regierung ergänzt, die Familie habe nie einen Antrag für die Behandlung von Frau oder Tochter gestellt.
Als die Familie Musa 2012 in den Kosovo zurückkehrte, wurde sie noch ein Jahr lang von der deutschen Rückkehrinitiative URA, übersetzt "Die Brücke", unterstützt. Es ist ein Projekt des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge; geschaffen, um den Menschen kurz nach ihrer Ankunft zu helfen, eine Arbeit zu finden oder sogar ein Geschäft zu gründen.

Keine Perspektive für Roma und Ashkali

Doch während der Flüchtlingskrise sind besonders viele Menschen aus dem Balkan nach Deutschland gekommen und wieder zurückgeschickt worden. Auch für URA war das eine Herausforderung. Ein Sprecher im Bundesinnenministerium erklärt, dass im Ausnahmejahr 2016 ...
"... mit rund 5.500 Rückkehrern mehr als zehnmal so viele Personen betreut werden mussten wie noch 2014. Daher war von 2016 bis Anfang 2017 eine so intensive Betreuung der Rückkehrer auch vor Ort, wie es bei URA üblich ist, nicht durchgängig möglich."
Aber eine Perspektive für Roma und Ashkali zu schaffen ist auch außerhalb der sogenannten Krisenzeiten oft gar nicht möglich.
"Ob es am Arbeitsmarkt ist, im Erziehungswesen, im Gesundheitswesen, ob‘s auf dem Wohnungsmarkt ist, das alltägliche Leben auf der Straße – das ist zum Teil eine Diskriminierung, die auch von staatlicher Seite ausgeht, was von den deutschen Behörden gerne verschwiegen wird."
... erklärt Stephan Müller, der auch die Regierung Kosovos in Integrationsfragen beraten hat. Denn dass Musa Hisni innerhalb der fünf Jahre keinen Job finden konnte, liegt zwar an der hohen Arbeitslosigkeit im Kosovo, die bei 30 Prozent liegt. Aber nicht nur, sagt der Politikwissenschaftler: die Arbeitslosigkeit unter den Roma und Ashkali sei doppelt so hoch.
Zurück in Subotica im Norden von Serbien. Die 16-Jährige Nadire hat die Schule "Jovan Jovanovic" in den vergangenen drei Jahren schon sieben Mal aufgesucht, um bei der Direktorin vorzusprechen. An dieser Schule dürfen ältere Jugendliche und Erwachsene lernen, auch Analphabeten. Doch jedes Mal wurde Nadire abgewiesen. Jetzt ist sie das achte Mal hier – diesmal in Begleitung einer Reporterin aus Deutschland. Vielleicht hilft das?

Nadire darf endlich die Schule besuchen

Vielleicht aber hilft auch, dass Nadire der Schuldirektorin ganz offen ihre Situation erklärt: dass sie nur bis zur dritten Klasse die Schule besucht hat, dafür aber leider keine Zeugnisse vorweisen kann. Jedenfalls ist Nadire diesmal erfolgreich: Sie macht einen Test, besteht ihn – und bekommt einen Platz an der Schule.
Serbisches Schulbuch mit Kinderzeichnungen
Mit einem Schulbuch der 1. Klasse muss Nadire nun Serbisch lernen.© Petra Sorge
"Oh, ich bin so stolz, oh ich bin so glücklich. Nach Jahren gekämpft – und man gewinnt diesen Kampf."
An der Jovan-Jovanovic-Schule lernen auch andere Roma und Ashkali aus Westeuropa. Diesen Kindern und Jugendlichen fällt die Integration nicht leicht, sagt die Schulpsychologin Dragana Chupurdija.
"Denn es gibt keinen anderen Weg für diese Kinder, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein. Und das ist wie ein Stigma. Ich fühle mit ihnen, aber sie sind so introvertiert und sie möchten mit niemanden darüber sprechen. Ich bin eine Psychologin, aber sie wollen nicht in mein Büro kommen."
Dragana Chupurdija ist allein und schafft es deshalb nicht, sich um die Rückkehrer-Kinder zu kümmern.
"Ich möchte sie dazu nicht zwingen – ich beobachte das einfach und hoffe, dass es schon gutgehen wird."

"Ich will arbeiten und das Leben genießen"

Nadire möchte sich sehr anstrengen. Sie muss jetzt sieben Jahre in einer Erwachsenenklasse nachholen. Früher, in der dritten Klasse, wollte sie einmal Lehrerin werden. Jetzt ist sie bescheidener geworden – und möchte eines Tages in die Pflege gehen.
"Aber wenn ich die Chance irgendwann mal habe, ich hoffe es mit ganzem Herzen, dann ziehe ich alles durch, dann mache ich meine Ausbildung als Krankenschwester und arbeite und genieße mein Leben."
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