Roberto Paternostro: Wagner gehört ins Repertoire jedes ernsthaften Orchesters

Roberto Paternostro im Gespräch mit Joachim Scholl · 26.07.2011
Kurz vor dem umstrittenen Konzert hat der Dirigent Roberto Paternostro den Auftritt seines Israel Chamber Orchestras in der Bayreuther Stadthalle verteidigt. Die historische Belastung des Wagner-Festspielortes Bayreuth halte sich heutzutage in Grenzen.
Joachim Scholl: In zwei Stunden wird in der Stadthalle Bayreuth etwas Unerhörtes geschehen. Ein Orchester aus Israel wird Richard Wagner spielen, zum ersten Mal – und darüber hat es in Israel erregte Diskussionen gegeben. Denn dort ist Wagner für Viele zum kulturellen Symbol für den Holocaust geworden: Wagner, der von Hitler verehrt wurde, Wagner, der sich in seiner Schrift "Das Judentum in der Musik" von 1850 als ziemlich wütender Antisemit präsentiert hat. Am Telefon ist Roberto Paternostro, der Dirigent des Israel Chamber Orchestra. Guten Tag, Herr Paternostro!

Roberto Paternostro: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Wir erreichen Sie vor der Aufführung, inmitten der Proben. Wie gespannt sind Sie und Ihre Musiker auf dieses Konzert?

Paternostro: Auf das Konzert sind wir sehr gespannt. Wir freuen uns, hier zum ersten Mal in Bayreuth zu musizieren. Aber wir sind sehr freudig erregt, und in keiner Weise ist das eine Form der unangenehmen Spannung. Das Konzert wird gut vorbereitet. Wir sind jetzt eben gerade mit der ersten Probe des Siegfried-Idylls fertig geworden, das wir ausschließlich hier in Bayreuth probieren werden, und wir sehen mit großer musikalischer Freude dem Konzert entgegen.

Scholl: In Israel hat man Sie scharf kritisiert, Herr Paternostro, für dieses Konzert. Warum wollen Sie unbedingt Wagner in Bayreuth spielen, in Hitlers spirituellem Hauptquartier, wie es in diesen Tagen einmal in der Zeitung genannt wurde?

Paternostro: Nun, das hat zwei Gründe: Erstens einmal bin ich als Dirigent und Musiker – und als ausschließlich solcher verstehe ich mich, im Übrigen auch das Orchester –, wir sind, wenn Sie so wollen, musikalische Botschafter und versuchen jede Form der politischen Diskussion, die es dann leider geworden ist, in die nicht einzusteigen.

Ich habe mich mein ganzes Leben, von frühester Jugend an, mit Wagner beschäftigt, auch viel Wagner dirigiert in meiner GMD-Zeit in Deutschland, aber auch sonst, und mache das auch weiter. Und als ich vor eineinhalb Jahren die Position des Musikdirektors des Israel Chamber Orchestra übernommen habe, war es natürlich eine Idee, wie man diese beiden Lieben, nämlich mein israelisches Orchester und meine Liebe zur Musik Richard Wagners unter einen Hut bringt, und mit dieser Idee bin ich an Katharina Wagner und an die Stadt Bayreuth herangetreten, die beide sofort davon sehr angetan waren, und die auch alle Unterstützung uns gegeben haben, und so, dass dieses Konzert stattfindet.

Im Übrigen ist natürlich – und das ist mir klar – aus der Geschichte her Bayreuth ein belasteter, wenn Sie so wollen, unter Anführungszeichen "Ort", obwohl auch das zu relativieren ist. Denn im Jahre 2011, meine ich, hält sich die Belastung auch wieder in Grenzen. Und die andere Sache ist: Unser Orchester hat jetzt eine Deutschlandtournee absolviert vergangenes Jahr. Wir waren unter anderem in Stuttgart, wir waren in der Philharmonie in Köln; israelische Orchester spielen in München, spielen in Berlin. Und ich glaube, wenn man diese unselige Diskussion der Belastung von Städten weiterspinnen würde, könnte man ja in München mit gutem Grund auch nicht auftreten!

Scholl: Holocaust-Überlebende in Israel fühlen sich aber sehr verletzt, sprechen von einer Verhöhnung der Opfer, die "Jerusalem Post" hat von einer nationalen Schande gesprochen; diese Kritik kann Ihnen nicht egal sein, Herr Paternostro, was antworten Sie da drauf?

Paternostro: Diese Kritik ist mir in keiner Weise egal, und ich weiß, dass sehr harte Worte gefallen sind in mehreren israelischen Medien. Meine Haltung dazu ist die folgende, sie ist sehr klar: Ich habe den allerhöchsten Respekt und die allerhöchste Hochachtung, da ich selbst aus einer familiären Konstellation komme, wo das durchaus im Bewusstsein meiner Familiengeschichte ist, dass Menschen, die diese Hölle dieser Zeit erlebt oder überlebt haben, dazu einen zutiefst emotionalen Zugang haben, über den ich nicht diskutieren kann und auch nicht diskutieren will, und die in keiner Weise verletzt werden sollen.

Auf der anderen Seite muss ich sagen, habe ich natürlich dieses Konzert, bevor wir den Entschluss gefasst haben, es tatsächlich zu machen, auch in breiter Basis in meinem Orchester diskutiert. Wir haben einen sehr renommierten israelischen Musikwissenschaftler, Professor Zimmermann, eingeladen, um dem Orchester sozusagen eine Art Workshop zu geben über Richard Wagner, über sein Verhältnis auch zum Judentum et cetera. Und es ist eine unglaubliche Neugierde entstanden, diese Musik aufzuführen. Im Übrigen haben viele Musiker, die in meinem Orchester spielen, stammen aus der ehemaligen Sowjetunion, haben auch dort zum Beispiel bei den Moskauer Philharmonikern Wagner gespielt.

Es ist eine große Offenheit da, die übrigens auch in der Öffentlichkeit vorhanden ist. Und vollkommen unabhängig von uns hat sich ja kurz darauf der erste israelische Richard-Wagner-Verband gebildet, der ja mittlerweile, ich weiß nicht, schon wie viele Hundert Mitglieder hat. Es gibt da eine wirkliche Offenheit, ohne natürlich diesen Menschen nahetreten zu wollen. Wir spielen es auch nicht in Israel, wir zwingen niemanden dazu, und wir wollen niemanden verletzen, das ist uns ganz wichtig.

Scholl: Wagner in Bayreuth, gespielt vom Israel Chamber Orchestra. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Dirigenten Roberto Paternostro. Jeder Wagnerverehrer, Herr Paternostro, muss sich jedoch mit diesem wirklich schwarzen Fleck in der Biografie des Meisters auseinandersetzen, Richard Wagners Hass auf die Juden, konzentriert in der Schrift "Das Judentum in der Musik", ein Aufsatz, den man wohl mit Recht als antisemitisches Pamphlet ansehen kann. Wie sehen Sie diese Schrift? Ist für Sie Wagner ein Antisemit?

Paternostro: Es ist unglaublich eigentlich. Und ich glaube, diese Schrift ist fernab jedes Kommentars, das ist ganz einfach nicht einmal mehr zu kommentieren. Man könnte die Dinge auch noch weiterspinnen und auch die Tagebücher Cosima Wagners nehmen, die ja wirklich auch, sage ich einmal, in den Jahren 1873 et cetera, voll von antijüdischen, antisemitischen Bemerkungen strotzen, kann man fast sagen.

Es ist eine wirklich üble Atmosphäre, die in diesen teilweise Tagebüchern herrscht, und die natürlich gerade in der von Ihnen angesprochenen Schrift herrscht. Das ist weder zu beschönigen noch zu entschuldigen. Und man kann sich die Frage stellen, wie so ein genialer, großartiger Komponist sich zu so einem erbärmlichen Traktat hat hinreißen lassen. Es gibt dafür tausend Entschuldigungsgründe, die einen eigentlich alle nicht interessieren müssen: die Zurückweisung durch Meyerbeer und was weiß ich, was alles angeführt wird.

Ich kann das wie gesagt nicht beschönigen, ich kann nur immer wieder sagen: Wir als Musiker – und da bin ich ja nicht der einzige, der diesen Standpunkt vertritt – sind doch in gewisser Weise der Meinung, dass diese Schriften grauenhaft sind; die Musik ist unbestritten genial und großartig und gehört ins Repertoire eines jeden vernünftigen und ernsthaft musizierenden Orchesters.

Scholl: Sie setzen im Konzert Richard Wagners Siegfried-Idyll neben Kompositionen von Gustav Mahler, Felix Mendelssohn Bartholdy und Tzvi Avni, ein zeitgenössischer israelischer Komponist – Werke also von jüdischen Musikern. Ist diese Wahl auch ein gewissermaßen kleines politisches Zeichen?

Paternostro: Es ist eigentlich kein politisches Zeichen, es ist ein eher musikalisches Zeichen. Es sind zwei merkwürdige Sachen gerade in den letzten Tagen passiert. Vorgestern in Tel Aviv bei den Proben, wo wir das Konzert vorbereitet haben und, wie gesagt, alles gespielt haben, außer den Wagner, kam Tzvi Avni auch in eine Probe – er ist über 80 Jahre –, und jetzt kommt die spannende Geschichte: Er ist in Saarbrücken geboren, er hat also die gesamte Lebensgeschichte eines in Deutschland geborenen jüdischen Menschen, der dann nach Israel ausgewandert ist, mit allen Scheußlichkeiten verbunden, und freut sich und ist stolz darauf, dass wir dieses Stück in diesem Konzert an diesem Ort spielen.

Das ist die Haltung eines über 80-jährigen deutsch-israelischen Juden. Auch das muss gesagt werden, und nicht immer die Seite herausgezogen werden, die sagt, es geht nicht. Das ist das Eine; die andere Geschichte: Es kamen gerade nach den Wagnerproben hier in Bayreuth viele Musiker auf mich zu und haben gesagt: Wahnsinn! Wenn wir das spielen, verstehen wir manche Wendungen bei Mahler anders! Wenn wir diese Wagner-Sache spielen, verstehen wir plötzlich "Verklärte Nacht" von Schönberg, das zu einem Repertoirestück unseres Orchesters gehört, anders!

Es ist vielleicht auch eine Öffnung des musikalischen Bewusstseins, dass mir heute die Musiker hier nach den Proben immer wieder sagen, wie sie auf einmal, nachdem sie sich mit einem Wagnerstück harmonisch, melodisch und so weiter auseinandergesetzt haben, wie man plötzlich doch auch einen Zugang zur Musik der Vorgänger, aber auch der Musik, die unmittelbar darauf folgt, bekommt.

Scholl: Sie spielen nun Wagner in Bayreuth – Wagner hingegen in Israel zu spielen, ist bislang jedes Mal unter wütenden Zuschauerprotesten gescheitert. Zubin Metha hat es gewagt vor bald 30 Jahren, dann hat Daniel Barenboim ebenfalls einen Versuch unternommen. Wagner ist ein Tabu in Israel. Wollen Sie es irgendwann brechen, Herr Paternostro?

Paternostro: Es wird Metha und Barenboim hervorgehoben, und das ist auch zurecht, das waren die prominentesten Vertreter, die es probiert haben. Ich muss auch sagen, das es immer wieder – ich habe das jetzt alles im Zuge der Vorbereitungen erfahren und wusste es selber nicht – immer wieder so kleine vereinzelte Versuche gegeben hat; es gab mal einen Liederabend mit Wesendonck-Liedern mit Klavier, es gab mal eine Abschlussveranstaltung, ich glaube, der Musikakademie in Tel Aviv, wo die Blumenmädchenszene aus Parsifal gemacht worden ist, auch da wurde protestiert – es gab verschiedene Versuche, um das zu starten

Ich glaube, dass dieses Konzert vielleicht ein gewisses Umdenken mitbewirken kann, aber zumindest eine Diskussion wiedereröffnet, die heute im Jahre 2011 vielleicht auch auf einer anderen Ebene geführt werden kann. Und ich wünsche mir und hoffe mir, ohne diese Scheußlichkeiten zu vergessen, dass es in naher Zukunft möglich ist, Wagner auch in Israel zu spielen.

Scholl: Sie müssen in Bayreuth unter Polizeischutz spielen, Herr Paternostro, denn Neonazis haben ihren eigenen Protest gegen das Konzert angekündigt. Haben Sie ein mulmiges Gefühl dabei?

Paternostro: Nein. Wie soll ich das sagen? Wenn man in Israel arbeitet – und das Orchester ist ja in Tel Aviv ansässig –, ist man eine gewisse Sicherheitsstufe von Haus aus gewohnt. Wie Sie wissen, können Sie in Tel Aviv in kein Kaffeehaus und in keinen Supermarkt gehen, ohne nicht vorher kontrolliert zu werden. Das heißt, das Orchester nimmt das als durchaus gegeben hin, dass jetzt hier Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden sind, und weder ich noch das Orchester fürchten uns vor diesen Bedrohungen.

Scholl: Roberto Paternostro, in zwei Stunden wird er das Israel Chamber Orchestra in der Stadthalle Bayreuth dirigieren – Wagner wird gespielt, das Siegfried-Idyll. Alles Gute, Herr Paternostro, für dieses Konzert, und herzlichen Dank für das Gespräch!

Paternostro: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen

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