"Riesendruck im Kessel der katholischen Kirche"

Wolfgang Kessler im Gespräch mit Marietta Schwarz · 26.09.2011
Der Chefredakteur von "Publik-Forum", einem Magazin kritischer Christen, Wolfgang Kessler, ist nach dem Besuch von Papst Benedikt XVI. noch ernüchterter als vorher. Er glaubt, dass viele engagierte Katholiken von ihrem Oberhaupt enttäuscht sind und zum Ungehorsam aufrufen werden.
Marietta Schwarz: Große Aufregung, aber auch große Erwartungen gab es an den Deutschlandbesuch des Papstes, der gestern in Freiburg zu Ende ging. Berlin, Etzelsbach, Erfurt, Freiburg, das waren die Stationen Benedikts XVI. Die Baustellen hießen eher Missbrauch, Ökumene, innerkirchliche Kritik an der Haltung der Obrigkeit, steigende Austrittszahlen.

Welche Antworten hat der Papst bei seinem Deutschlandbesuch geliefert, wo blieb er welche schuldig? Darüber spreche ich mit Wolfgang Kessler, er ist Chefredakteur von "Publik-Forum", einem Magazin für kritische Christen von kritischen Christen, das auch online erscheint. Guten Morgen, Herr Kessler.

Wolfgang Kessler: Guten Morgen, Frau Schwarz.

Schwarz: Herr Kessler, der Papst ist abgereist, wahrscheinlich wird er jetzt 84-jährig nicht noch einmal eine solche Deutschlandvisite machen. Was bleibt denn bei Ihnen für ein Gefühl zurück?

Kessler: Die hohen Erwartungen, die manche an ihn vor dem Besuch hatten, hatten wir in der Redaktion nicht. Wir kennen Joseph Ratzinger seit 30 Jahren. Insofern ist das, was jetzt passiert ist, nicht sehr überraschend. Ich bin nach dem Besuch allerdings noch ernüchterter, als ich das vorher war.

Schwarz: Woran liegt das?

Kessler: Das liegt daran, dass er praktisch mit keinem Wort auf die vielen Reformforderungen, auf die vielen Fragen eingegangen ist, die es unter vielen Katholiken in Deutschland gibt, denn der Reformdruck, die Probleme, die es gibt, die sind ja groß.

Schwarz: Dennoch: Sie haben selbst gesagt, Sie kennen den Papst seit 30 Jahren. Auch die Öffentlichkeit ist schon lange informiert darüber, welche Vatikan-Politik er fährt. Also doch noch mal die Frage: Warum hat man eigentlich so große Erwartungen an diesen Menschen, wenn man doch weiß, wo er eigentlich steht?

Kessler: Ja, das ist ein Stück Verzweiflung, das man dann hat an der Kirchenbasis. Es gab diese vielen Missbrauchsfälle hinter kirchlichen Mauern, nicht nur hinter kirchlichen Mauern, aber auch, es gibt den großen Priestermangel, es gibt im Ruhrbistum Essen zum Beispiel noch gerade mal 40 Pfarrer, es gibt die großen Ansprüche der Frauen, jetzt endlich auch mitzubestimmen, nachdem sie die Arbeit an der Basis tragen, es gibt einen Riesendruck im Kessel der katholischen Kirche, und da bauen sich natürlich Erwartungen auf, zumal die katholischen Bischöfe in Deutschland oder ein Teil von ihnen ja gerade einen Dialogprozess mit den Gläubigen eingeleitet haben, und ich denke, diese katholischen Bischöfe, die das versuchen, die sind jetzt eigentlich die wahren Verlierer.

Schwarz: Nun könnte man sagen, der Papst hat auf diese drängenden Fragen schon auch eine Antwort gegeben, auch wenn man die vielleicht nicht so gerne hören mag. Er hat gesagt, es gibt eigentlich keine Krise der Kirche, sondern eine Krise des Glaubens. Das heißt im Prinzip, an der Institution Kirche braucht sich gar nichts zu ändern?

Kessler: Ja, das halte ich immer für ein Ablenkungsmanöver. Es gibt bei vielen Leuten mit Sicherheit auch Anfragen an den Glauben. Aber ich glaube, dass die Suche nach Religion, nach Religiösem, nach Glaube als Kraftquelle in der Gesellschaft nicht abgenommen hat, aber das Misstrauen in die katholische Kirche hat zugenommen, weil die katholische Kirche stark erstarrt ist, in Rituale, in bestimmte Herrschaftsmechanismen, in altgediente Floskeln sich flüchtet, die den Menschen nicht mehr viel sagen. Und ich glaube, man kann nicht trennen zwischen der Glaubenskrise, die in der katholischen Kirche stattfindet, und der Krise kirchlicher Strukturen. Da eine Trennung herzustellen, das wäre sehr künstlich, und wie gesagt, das klingt wie ein Ablenkungsmanöver.

Schwarz: Welche Konsequenzen befürchten Sie denn aus diesem Ablenkungsmanöver?

Kessler: Ich glaube, dass die Spannungen in der katholischen Kirche zunehmen werden. Die vielen ja doch aufrecht Gläubigen, die eigentlich eine Reform der Kirche wollen und dringend für notwendig halten, die werden enttäuscht sein von diesem Besuch, die werden zum Ungehorsam aufrufen, würde ich sagen, das war schon vorher so, das wird nachher so sein, und das wird die Spannungen und die Konflikte verstärken und es wird auch mit Sicherheit nicht wenige Austritte geben.

Schwarz: Herr Kessler, ich habe bereits erwähnt, "Publik-Forum" erscheint im Internet als Online-Ausgabe, aber auch alle zwei Wochen als Print-Ausgabe.

Kessler: Ja.

Schwarz: Wird der Papst und dieser Besuch am Freitag in einer Woche, wird, glaube ich, die nächste Ausgabe sein, im Mittelpunkt dieser kommenden Ausgabe von "Publik-Forum" stehen?

Kessler: Der Papstbesuch wird im Mittelpunkt stehen. Wir werden auf die Rede des Papstes im Bundestag eingehen, wir werden die Haltung des Papstes noch mal gründlich durchleuchten in allen Fragen. Wir werden aber auch die Kirchenreformbewegung beleuchten. Wir werden fragen, wie sie nun reagiert nach diesem Papstbesuch, denn wir sind selbst einige unter jenen, die Kirchenreformen für dringlich halten.

Wir werden aber auch etwas ganz Besonderes machen. Wir werden in einem großen Interview mit Klaus Mertes das Bild einer anderen katholischen Kirche zeichnen, das Bild einer Kirche der Barmherzigkeit, der Versöhnung, und Klaus Mertes ist ja einer, der es wissen muss. Er ist Jesuit und er war Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, an dem weit vor seiner Zeit sehr viele Kinder missbraucht worden sind. Er weiß also, wovon er redet, und er versucht, eine Antwort zu finden auf diese Missbrauchskrise, und da dürfen die Leserinnen und Leser gespannt sein.

Schwarz: Mehr dazu also in der nächsten Print-Ausgabe von "Publik-Forum". Die erscheint im hessischen Oberursel und dort empfangen sie Deutschlandradio Kultur auf der UKW-Frequenz 101,8. – Wolfgang Kessler war das, Chefredakteur von "Publik-Forum", und ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.

Kessler: Ich danke Ihnen auch, Frau Schwarz. Machen Sie es gut.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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