Richard Swartz: Adressbuch. Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas

Rezensiert von Carola Wiemers · 29.03.2005
Der schwedische Autor Richard Swartz betreibt in seinem jüngsten Prosaband <em>"Adressbuch. Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas"</em> eine sprachliche Inventur besonders feiner, sensibler Art und reflektiert mit dieser einfühlsamen, doch kritischen Bestandsaufnahme zugleich die eigene kosmopolitische Existenz. Denn als Osteuropa-Korrespondent schreibt Swartz nicht nur für die schwedische Zeitung "Svenska Dagbladet", sondern u. a. auch für die FAZ.
Inzwischen lebt der viel beachtete Autor, dessen Romandebüt Ein Haus in Istrien auch in deutscher Sprache erschien, in Stockholm, Wien und Istrien. Von seinen Reisen quer durch Europa brachte er wohl auch Figuren wie den skurrilen Fotohändler Kralík aus dem österreichischen Mühlviertel oder den Kantor Ernster aus der rumänischen Stadt Sibiu mit, denen wir in Adressbuch begegnen. Die stille Gestalt des Schuhe produzierenden Großvaters hingegen ist ihm seit schwedischen Kindertagen nicht von der Seite gewichen, sie nahm er in die Fremde mit.

Die gelebte Rastlosigkeit scheint in diesen Figuren eingefangen, sie werden in der erinnernden Begegnung zu jenen guten Adressen, die nur als ungeschriebene Erinnerungsnotiz existieren. Für Europa markieren sie eine Geographie, die es auf der Karte nicht gibt.

Ein Tonfall, eine Geste oder ein Schatten – das sind die Koordinaten, mit denen sich Swartz in seinem neuen Buch beschäftigt. Sie umfassen und durchkreuzen die europäischen Staaten und bilden ein Netz, in dem sich der Ich-Erzähler sprachlich filigran und mit gedanklicher Eleganz bewegt.

Die Titel der Geschichten klingen vertraut: Böhmen am Meer, Wiener Blut, Das Herz der Finsternis – und Swartz bekennt sich dazu. Sie sollen auf Bekanntes verweisen, um die von ihm geschaffene erzählerische Distanz zu markieren.

Zugleich sind sie ihm literarisches, geistesgeschichtliches Allgemeingut, das nur in der denkenden, also schreibenden Auseinandersetzung zu bewahren ist. Bei der genüsslichen Flanerie in verschiedenste Richtungen, der es nicht an kritischer Gedankenschärfe fehlt, drängt sich die genannte Großvaterfigur immer wieder an die Seite des Erzählers.

Eine Figur, die ausgesprochen "stille Interessen" besitzt, da er – wie es heißt - ein "großer Leser" ist. Als junger Mann befolgt er den Rat der Familie, setzt auf "Leder und Fell" und gründet eine Schuhfabrik. Doch neben der Lederfabrik, die durch zwei Weltkriege einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, indem für deutsche Soldaten Stiefel aus feinstem Leder produziert werden, spielen Bücher die zentrale Rolle im Leben des Mannes aus Örebro.

Als stumme Zeugen verweisen sie in seiner wie ein Ballsaal geräumigen Bibliothek darauf, "dass Häute und Leder zu so viel mehr verwendet werden können" als für Stiefel, in denen gestorben wird. Das gilt bis zu jenem Tag, da ein "Gefreiter aus Österreich" die in feinstes Leder gebundene deutschsprachige Kultur den Flammen übergibt. Der Großvater nimmt Abschied von seinem eigentlichen Reichtum. Stiefel und Bücher rücken in unheilvoller Weise symbolhaft zusammen.

Die kosmopolitische Existenz des Erzählers ist schuld daran, dass er sich immer wieder von seinem Ursprungsort und der so genannten Mutter-Sprache entfernt. Und je größer die räumliche Distanz wird, umso stärker drängt sich das Geheimnis einer inneren Anbindung ins Geschehen. Sensibel gewählte Wörter und klug konstruierte Sätze holen das scheinbar fehlende Bindeglied aus dem Sog des Vergessens zurück.

Swartz vermag zu verdeutlichen, dass und wie die Genese, Existenz und Veränderung von Sprache sowie deren Missachtung und Zerstörung an Realität gebunden ist. Was man an Sprache mitnimmt, wenn man den Weg in die Fremde gehen muss, ist Thema der Geschichte Das Herz der Finsternis, in dessen Titel die fremde Autorenschaft unverschlüsselt enthalten ist. Joseph Conrads Roman Das Herz der Finsternis (1902) knüpft an den Mythos des Schwarzen Kontinents an, dem das Muster einer rassistischen Verschiebung zugrunde liegt: unterdrückte Triebe europäischer Kolonisatoren werden auf die afrikanischen Opfer projiziert. Die den Globus umspannende politische wie wirtschaftliche Unterdrückung wird als kalter Apparat entlarvt, wo die Suche nach den Schuldigen sich in der Anonymität verläuft.

Swartz interessiert besonders, indem er diese Traditionslinie aufgreift und fortschreibt, wie sich die rätselhaften, oft nicht zu entschleiernden Vorgänge der Wirklichkeit in die Magie der Sprache hineinholen lassen. In seiner Version vom Herz der Finsternis ist es ein Satz, der alles zerstört und gerade deshalb im Text ungesagt bleibt. Die Leerstelle selbst verweist auf eine Realität, in der rassistische Ausgrenzung und antisemitische Gewalt den gegenwärtigen Alltag in Europa bestimmen.

Das Thema der Fremde, der Heimatlosigkeit und Ausgrenzung wird von Richard Swartz in einem Kaleidoskop sprachlicher Metamorphosen gespiegelt, um jene Adressbücher sichtbar zu machen, "die auf der Karte zu suchen sich nicht lohnt", und sich doch als die einzigen erweisen, "worin wir jetzt zu Hause sind".

Richard Swartz: Adressbuch: Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Hanser, München 2005
197 Seiten