Requiem für einen Freund

20.10.2008
Mit Asche vom Amazonas legt Milton Hatoum eine gelungene Mischung aus Künstlerroman, Gesellschaftsporträt und Familiengeschichte vor. Ein Brief animiert den inzwischen verdienten Rechtsanwalt Lavo zur Rückschau auf die auf die gemeinsame Jugend, die er gemeinsam mit seinem künstlerisch hochbegabten Freund Mundo im brasilianischen Urwald verbracht hat. Für europäische Leser entfaltet der Roman nicht zuletzt durch seine exotische Kulisse seinen Reiz.
Asche vom Amazonas ist ein Requiem für einen verlorenen Freund. Im Mittelpunkt steht Raimundo, genannt Mundo, klug, empfindsam, hübsch, widerspenstig und künstlerisch hochbegabt. "Entweder sinnloser Gehorsam oder Revolte" lautete ein Satz auf einer Postkarte, die er eines Tages an Lavo sendete, den Ich-Erzähler und Chronisten von Mundos Schicksal.

Lavo, inzwischen ein verdienter Rechtsanwalt, wird 20 Jahre nach seiner Bekanntschaft mit Mundo durch einen Brief zur Rückschau auf die gemeinsame Jugend im brasilianischen Urwald in Manaus angehalten. Der Freund hatte ihm ein letztes Mal geschrieben, kurz bevor er in einem Krankenhaus in Rio de Janeiro sterben sollte. Nun scheint es an der Zeit, den vielen Verwicklungen nachzugehen.

Schritt für Schritt fächert Lavo die Stationen ihres Werdegangs auf. Eine leise Wehmut klingt an, und man spürt bereits, dass es kein gutes Ende nehmen wird mit Mundo. Die Verhältnisse könnten gegensätzlicher nicht sein: Lavo wächst bei seiner Tante Ramira auf, einer verhärmten Frau, die ihn und ihren nichtsnutzigen Bruder Ran mit Näharbeiten über Wasser hält. Mundos Vater Jano ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der mit der Militärregierung auf gutem Fuß steht und mit Jute-Manufakturen den Amazonas zivilisieren will.

Für die künstlerischen Neigungen seines Sohnes hat er nur Verachtung übrig. Er wünscht sich einen zielstrebigen Nachkommen und findet Gefallen an Lavos Beständigkeit. Die Mutter Alicia vergöttert Mundo und schlägt ähnlich wie er ihre Umgebung durch ihr unergründliches Wesen und ihre Schönheit in Bann, hat aber eine Neigung zum Alkohol.

Nach und nach kommen die Verbindungen zwischen Lavos und Mundos Familien zum Vorschein. Alicia ist eine typische Aufsteigerin und hat sich durch ihre Ehe mit dem cholerischen Jano einen neuen Status verschafft. Vor ihrer Hochzeit war sie aber mit Lavos Onkel Ran liiert, neben dem Maler Arana ein Mentor für Mundo. Die Beziehung zwischen Alicia und Jano ist spannungsreich, und Mundos desaströse Schulkarriere verschärft die Konflikte.

Am Ende wird er wegen eines aufrührerischen Kunstprojektes von der Militärakademie ausgeschlossen. Es kommt zu einem finalen Streit, Jano stirbt, Mundo kehrt Brasilien den Rücken und geht nach Europa. Doch bis zum Schluss bleibt er durch ein Familiengeheimnis an seine Herkunft gebunden. Erst an seinem Totenbett vertraut ihm Alicia die ganze Wahrheit an.

Milton Hatoum besticht vor allem durch seine Fähigkeit, von fatalen Familienverbindungen und archaischen Gefühlen zu erzählen. An mehreren Stellen entwickelt sein Roman die Düsternis einer griechischen Tragödie - so unentwirrbar scheinen die Verstrickungen, so unausweichlich der völlige Niedergang.

Dabei stellt der 1952 in Manaus als Sohn eines libanesischen Einwanderers geborene Schriftsteller seine Fertigkeiten als Psychologe unter Beweis: Mit jeder Geste steigern sich Mundo und sein Vater mehr in den gegenseitigen Hass hinein, bis sich alles in einer zerstörerischen Aktion entlädt. Alicia verhält sich abwechselend kokett, grausam oder einfältig und facht durch ihre Uneindeutigkeit die Auseinandersetzungen noch an.

Für europäische Leser entfaltet der neue Roman von Hatoum nicht zuletzt durch seine exotische Kulisse einen gewissen Reiz: Man lernt nicht nur Vila Amazonia kennen, wo Jano die Jute-Herstellung überwacht und ein feudales Anwesen besitzt, sondern auch die Gepflogenheiten in der barocken Tropenmetropole Manaus, und kann den Gegensatz zwischen den Bevölkerungsschichten ausmachen.

Hatoum, in seiner Heimat seit den späten 80er Jahren ein viel gelesener und mit Preisen ausgezeichneter Schriftsteller, hat Architektur studiert und einige Jahre in Europa gelebt. Heute ist er in Sao Paulo zu Hause. Mit Asche vom Amazonas legt Hatoum eine gelungene Mischung aus Künstlerroman, Gesellschaftsporträt und Familiengeschichte vor.

Rezensiert von Maike Albath

Milton Hatoum: Asche vom Amazonas
Roman, Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008,
298 Seiten, 24,80 Euro