Reliquien heute und früher

Der Atem Jesu und die Haare des Papstes

Blick auf den Reliquienschrein mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom.
Der Reliquienschrein mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom. Wegen dieser Reliquien gehörte Köln im Mittelalter zu den begehrtesten Wallfahrtsorten. © picture-alliance / dpa - Ossinger
Von Michael Hollenbach · 04.09.2016
Reliquien – das sind doch nur alte Knochen in katholischen Kirchen, so denkt man vielleicht. Aber Reliquien sind auch noch in ganz anderen Bereichen als der Religion zu finden, hat Michael Hollenbach bei seiner Spurensuche erfahren: zum Beispiel beim Fußball.
Domdechant Robert Kleine öffnet die Gittertür, die zum Wertvollsten des Kölner Doms führt: Zum Schrein der Heiligen Drei Könige. Die Knochen der drei Männer wurden – nach dem Überfall auf Mailand – 1164 aus Norditalien nach Köln gebracht. Mit weitreichenden Folgen:
"Man kann sich das heute kaum vorstellen, dass Köln nach Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela im Mittelalter der größte Wallfahrtsort war wegen der Reliquien."
Der Pilgerstrom war so groß, dass das Bistum entschied, einen neuen Dom zu bauen. Aber liegen in dem Schrein tatsächlich die Weisen aus dem Morgenland?
"Hundertprozentig weiß man es nicht, aber es geht darum, dass ich etwas sehe, was mich an etwas erinnert, und die werden ja auch nicht angebetet, sondern verehrt und sind Hinweis auf das Eigentliche."

Echt oder nicht - das ist nicht die Frage

Ob echt oder nicht – das sei auch gar nicht die Frage, meint Hubertus Lutterbach. Der katholische Theologe ist an der Universität in Essen Professor für die Geschichte des Christentums.
"Wir würden heute sagen, eine Reliquie ist dann echt, wenn sie die DNA des heiligen Petrus aufweist. Insofern sind Reliquien immer Phänomene aus der Geschichte des geglaubten Gottes. Man hat sich denen anvertraut, weil man ja nichts hatte im Vergleich zu unserem heute umfänglichen Versicherungswesen, um sich im Diesseits und Jenseits abzusichern. Da hat man seine Hoffnung gesetzt auf diese Menschen, die man als Kraftträger oder als Lichtträger empfunden hat."
Die Reliquien der Heiligen waren aber nicht nur Lichtträger für den einzelnen Katholiken, sondern auch ein Instrument der Macht. Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland:
"Der reformatorische Protest, den finde ich natürlich noch immer sinnvoll, weil Reliquien ja nicht einfach etwas Nostalgisch-Sentimentales sind, sondern eben Machtsymbole, gewaltgesättigte Dinge, mit denen man auch Religionspolitik betreiben kann."
Das weiß auch Kölns Domdechant Robert Kleine.
"Der Schrein der Heiligen Drei Könige hatte auch eine politische Aussage: in Paris, in der Sainte Chapelle, gab es die Dornenkrone Jesu, die wurde dort verehrt und der französische König konnte sich auf das Königtum Jesu berufen. Und hier die Heiligen Drei Könige waren die ersten, die den neugeborenen König gesehen hatten, und dann konnten auch die Könige sich in die Nachfolge der Könige stellen."

"Wenn ich dem Guten nah bin, werde ich selber gut"

In Aachen wurden die deutschen Könige und Kaiser gekrönt. Doch danach holten sie sich den göttlichen Beistand am Schrein der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom.
Eine Reliquie ist – wörtlich übersetzt – ein Überbleibsel, etwas Zurückgelassenes, das auf besondere religiöse Vorbilder verweist:
"Reliquien sind für uns erst mal ein fremder Zugang zum Glauben."
Messdiener stehen während der Trauerfeier für den verstorbenen Altbischof Josef Homeyer vor dem Altar in der Basilika St. Godehard in Hildesheim
Messdiener vor dem Altar in der Basilika St. Godehard in Hildesheim© picture alliance / dpa / Peter Steffen
Erläutert der Hildesheimer Weihbischof Heinz Günther Bongartz.
"Ich versuche das so zu erläutern: Vor einem Jahr ist mein Vater gestorben, und die Armbanduhr, die er hinterlassen hat, trage ich bis heute. Wir suchen irgendwie immer auch in unserem alltäglichen Leben Menschen, die uns etwas bedeuten, auch in unser Leben hinein zu holen, meistens mit Gegenständen, die uns an sie erinnern."
Und so sei das auch mit den Reliquien der Heiligen, sagt Bongartz, der in der Krypta des Hildesheimer Doms vor dem goldenen, edel verzierten Schrein des heiligen Godehard steht:
"Der Grundgedanke ist der bei den Reliquien: Wenn ich dem Heiligen nah bin, man könnte auch sagen: dem Guten nah bin, werde ich selber gut. Das ist das Ziel von Reliquien."

Posen und Laatzen teilen sich die Haaare von Johannes Paul II.

Reliquien müssen aber nicht – wie die vom heiligen Godehard - fast 900 Jahre alt sein. Adrian Grant, Direktor eines Altenheims in Laatzen bei Hannover, steht vor einem kleinen Schrein mit Haaren von Papst Johannes Paul II. Diese Reliquie bekam Grant als Geschenk aus Polen für eine Spende.
"Ich habe darum gebeten, mit dem Taschentuch drüberzugehen über die Reliquie, so hätten wir eine Reliquie zweiter Klasse, aber der Bischof von Posen entschied anders und hat mich sehr überrascht, indem dann die Reliquien der Haare von Johannes Paul II., die wurden einfach in der Mitte geteilt, und jetzt hat Laatzen die Hälfe, und die Stadt Posen hat die Hälfte der Reliquie."
Menschen halten ein Bild von Papst bei dessen Heiligsprechung auf dem Petersplatz in die Höhe.
Ein Bildnis von Johannes Paul II. bei der Heiligsprechung. Die Haare des Papstes befinden sich heute in Posen und in Laatzen. © dpa/picture alliance/Jacek Turczyk
Schon in der Frühzeit des Christentums wurden Märtyrer als Heilige verehrt. Doch dass ein Skelett zerlegt und einzelne Teile dann präsentiert wurden, das gibt es erst seit dem 11. Jahrhundert, weiß der Kulturhistoriker Hubertus Lutterbach:
"Seit der Zeit galt, dass in dem kleinen Knochen der ganze Heilige gegenwärtig ist, so wie Sie also heute noch in der orthodoxen Kirche in den Ikonen immer einen Heiligenpartikel eingelassen haben, ein Knochenstückchen, und der Maler malt die gesamte Ikone darum herum."
Bis heute wird bei jeder neu gebauten katholischen Kirche eine Reliquie im oder unter dem Altar versenkt. Der Kölner Domdechant Robert Kleine warnt aber davor, den Reliquien etwas Magisches zuzuschreiben:
"Die Reliquien sind nicht die, die wirken, auch der Heilige nicht, sondern er ist ein Fürsprecher."
Wie begehrt Reliquien offenbar auch noch heute sind, zeigt der Diebstahl einer Blutreliquie von Johannes Paul II. Ein Stück Watte mit einem Blutstropfen des 2014 heiliggesprochenen Papstes wurde im Juni aus dem Kölner Dom gestohlen. Der Stadtdechant zeigt auf das Reliquiar.
"Da war jetzt diese Reliquie, dieses Tuch drin und da war ein Glas vor. Aber keiner hat gewusst, wie schwach das hier gesichert war, und jetzt musste da wahrscheinlich nur einer mit einem Schrauberzieher kommen und konnte das ganze Ding rausnehmen - also es ist dumm gelaufen, auf gut Deutsch."

Was fangen Protestanten mit Reliquien an?

Reliquien sind ja etwas sehr Katholisches. Was kann ein Protestant damit anfangen?
"Zunächst gar nichts, denn Reliquien gibt es ja bei uns nicht - offiziell nicht."
Sagt Johann Hinrich Claussen.
"Aber es gibt natürlich dieses menschliche Urbedürfnis. Wir sind ja nicht nur Geisteswesen, wir sind auch sinnliche Wesen, und dieses Bedürfnis, etwas in der Hand zu haben, ein Stück von der Person, mit der man so eine Begegnung hatte. Dieses völlig absurde Autogrammsammeln, was ich nicht verstehen kann, für viele Menschen ist das etwas, zeigt einen Kontakt, da manifestiert sich eine Begegnung, und umso wichtiger natürlich, wenn es eine Begegnung mit dem Religiösen, mit dem Überweltlichen, dem Übersinnlichen ist."

Die Reliquien des sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise

"Willkommen hier im Lutherhaus."
Mirko Gutjahr arbeitet als Historiker bei den Luthergedenkstätten in Wittenberg. Zu Beginn der Ausstellung im Lutherhaus steht man vor dem so genannten Heiltumsbuch. Hier wurden die fast 20.000 Reliquien aufgelistet, die der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise besaß. Unter anderem auch den Atem Jesu. Aber in welcher Form?
"Das wissen wir auch nicht genau, wahrscheinlich in einem Fläschchen oder einem Glas eingekapselt. Da sieht man die spätmittelalterliche Frömmigkeit, die solche Dinge gern aufgenommen und geglaubt hat, weil man gern den Heiligen und besonders Christus besonders nah sein wollte."
Porträt des Reformators Martin Luther, Ölgemälde auf Holz von Lukas Cranach d.Ae., 1528. Das Bild hängt in der Lutherhalle in Wittenberg, dem grössten reformationsgeschichtlichen Museum der Welt.
Porträt des Reformators Martin Luther von Lukas Cranach d.Ae. von 1528. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise schützte den Reformator vor dem Zugriff des Kaisers. Der Kurfürst besaß damals die drittgrößte Reliquiensammlung der Welt. © picture-alliance / dpa / Norbert Neetz
Der Kurfürst, der Luther vor dem Zugriff des Kaisers schützte, hatte damals die drittgrößte Reliquiensammlung der Welt.
"Sogar die Teile der Nabelschnur wurden verehrt bis hin zu so skurrilen Dingen wie das Praeputium Christi, also die Vorhaut Christi, um die sich dann sogar 13 Kirchen in Europa stritten."
Obwohl die Reformatoren alle Reliquien des Kurfürsten später vernichteten, waren die Adepten Luthers selbst nicht vor dem Reliquienkult gefeit. Mirko Gutjahr steht in der Lutherstube:
"Wenn Sie sich hier umschauen und auf die Oberflächen des Tisches und der Bänke blicken, dann sehen Sie, dass überall die Besucher kleine Partikel abgeschnitten haben, kleine Holzsplitter mitgenommen haben, und das als Souvenir oder als Reliquie Luthers behandelt haben. Da merkt man: da ist noch relativ viel Katholik im Protestant."

Für Luther waren Reliquien "nutzlose Hunds- und Rossknochen"

Luther hatte die Reliquien als "nutzlose Hunds- und Rossknochen" verspottet, für ihn waren sie nur "ein tot Ding".
"Die frühe protestantische Kirche hat dann auch in Eisleben durch das Verbrennen von Besitztümern Luthers versucht, genau diesem Missbrauch Herr zu werden. Man hat das gesamte Sterbezimmer wohl verbrannt, um das zu vermeiden. Aber man bekam das aus den Leuten nicht raus: es gab ja sogar Wundersagen, die sich mit Luther verbunden haben."
Luthers Sterbezimmer wurde im 19. Jahrhundert rekonstruiert und ist bis heute ein Besuchermagnet – obwohl man inzwischen weiß, dass er in einem anderen Haus gestorben ist.
Ansonsten spielen heutzutage eher säkulare Reliquien eine besondere Rolle. Pop-Idole wie Madonna lassen beispielsweise ihre Unterwäsche versteigern.
"Da würde ich jetzt nicht mitbieten."
Sagt Johann Hinrich Claussen. Aber er gesteht eine Jugendsünde.
"Ich habe nur eine echte Unterschrift von einem Ausstellungskatalog. Das war in Hannover damals, da hatte Andy Warhol eine Ausstellung, und da bin ich mit klopfenden Herzen als 15-Jähriger hingegangen, habe ich mein Taschengeld zusammengekratzt, habe den Ausstellungskatalog gekauft, und er hat unterschrieben mit den bedenkenswerten erinnerungswürdigen Worten: Oh fuck."

Das Trikot des Lokalmatadors des Vfl Osnabrück

"Im Fußball gibt es auf jeden Fall Reliquien. Nach dem Aufstieg des VfL Osnabrück ist der Rasen abgeerntet worden und der befindet sich teilweise in Vitrinen, teilweise in Plexi eingelassen."
Hermann Queckenstedt ist Direktor des Diözesanmuseums Osnabrück und Präsident des dortigen Fußballclubs VfL. Ihm ist es mal nach einem Spiel gelungen, das Trikot eines Lokalmatadors des VfL zu fangen:
"Ich habe es dann gewaschen, worauf ich ganz böse Reaktionen geerntet habe, dass man eine solche Reliquie doch unangetastet lassen soll, und da ist sicher die eine oder andere Verschränkung mit der religiösen Sphäre vorhanden."
Auch der Kulturhistoriker Hubertus Lutterbach weiß um die Parallelen zwischen den religiösen und den säkularen Reliquien:
"Aber bei den Reliquien ging man davon aus, dass der Heilige in diesen Knochen von sich aus weiterlebt, das ist göttliche Kraft, die sich in diesen Knochen zeigt. Das fällt mir etwas schwer, das einem Fußballtrikot zuzuschreiben."
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