"Religiös unmusikalisch?"

Von Thomas Kroll · 13.06.2009
Am Donnerstag wird Jürgen Habermas 80 Jahre alt. Der deutsche Philosoph und Soziologe zählt nach Max Horkheimer und Theodor Adorno zu den bekanntesten Vertretern der Kritischen Theorie.
Bahr: "Jürgen Habermas ist geradezu eine Institution, der große deutsche Philosoph der Bundesrepublik ... Und seit 20 Jahren auch so etwas wie der gesamtdeutsche Philosoph, der sich in einer Weise für das politische Zusammenleben von Menschen interessiert, dass er immer im Blick hat auch die, die kein Philosophiestudium absolviert haben."

Jürgen Habermas sitzt nicht im Elfeinbeinturm. Im Gegenteil: Immer wieder meldet sich der Intellektuelle öffentlich zu Wort, sei es in Zeitungsartikeln, sei es in Debatten. Petra Bahr, die Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, sieht den Grund hierfür in einem zentralen Anliegen von Habermas’ Philosophie:

Bahr: "Eigentlich interessiert sich Jürgen Habermas für was ganz Altmodisches, nämlich für die res publica, für die Frage, wie wir mit den Dingen, die uns alle angehen, eigentlich umgehen, wie wir gemeinsam Entscheidungen treffen, wie wir die höchsten Güter verteidigen, wie wir zu gemeinsamen Ideen von Menschenwürde und Menschenrechten kommen. Deswegen hat er den Begriff der Kommunikation auch in den Mittelpunkt seines philosophischen Nachdenkens gestellt, weil er davon ausgeht, dass Menschen Beziehungswesen sind."

»Theorie des kommunikativen Handelns« lautet der Titel von Habermas’ Hauptwerk aus dem Jahr 1981. Im Mittelpunkt steht die soziologisch fundierte Auseinandersetzung über die Bedeutung der Kommunikation für das soziale Leben in demokratischen Gesellschaften. Vernunft und Rationalität kommen dabei große Bedeutung zu.

Bahr: "Aber die Pointe bei Habermas ist eben die, dass er sagt, es geht nicht um die Vernunft der einzelnen, sondern um die gemeinsame Vernunft, die geteilte, die hervorgebrachte Vernunft, die einem Gemeinwesen zurechthilft und die in einer Gesellschaft bessere Lebensbedingungen schafft, indem diejenigen, die sich an dieser Gesellschaft mit guten Argumenten beteiligen, so aufeinander achten, dass man zu einem gemeinsamen Ergebnis kommt."

Habermas’ Theorie wird vielfach rezipiert - auch auf Seiten der Theologie. Für die christliche Sozialethik etwa lautet eine der Herausforderungen: Dürfen nur die Normen Geltung beanspruchen, die Zustimmung finden bei allen Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses?

Die theologische Auseinandersetzung mit Habermas’ Hauptwerk ist dabei keine Einbahnstraße. So erklärt der Philosoph in den Neunzigerjahren nach Diskursen mit Vertretern der Politischen Theologie:

"Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik."

Aufhorchen lässt Habermas am 14. Oktober 2001. Die Terroranschläge vom 11. September sind allen noch vor Augen, da ehrt ihn der Deutsche Buchhandel als Friedenspreisträger. In seiner Dankesrede nimmt Habermas die aktuellen Ereignisse als Anlass für grundsätzliche Bemerkungen zum Thema "Glauben und Wissen".

"Der demokratisch aufgeklärte Commonsense ist kein Singular, sondern beschreibt die mentale Verfassung einer vielstimmigen Öffentlichkeit. Säkulare Mehrheiten dürfen in solchen Fragen keine Beschlüsse durchdrücken, bevor sie nicht dem Einspruch von Opponenten, die sich davon in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, Gehör geschenkt haben; sie müssen diesen Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto betrachten, um zu prüfen, was sie daraus lernen können."

Bahr: "Und da stellt er fest, dass religiöse Ideen wie zum Beispiel die Ebenbildlichkeit des Menschen, eine christliche Grundannahme maßgeblich ist für das, was wir heute als Würde der Person fassen, dass gleichzeitig aber zum Beispiel in der philosophischen Aufklärung Traditionen gibt, die auf ihre Weise diesen Gedanken ganz säkular fassen ohne religiöse Bezüge. Beide zusammen machen aber die Idee der Menschenwürde stark."

Eine kleine Sensation ist im Januar 2004 das Treffen von Habermas mit dem ehemaligen Präfekten der römischen Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst. Damals erklärt Habermas in der Katholischen Akademie Bayern in München:

"Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen."

Bahr: "In meiner Perspektive ist es eine dieser Kernäußerungen von Jürgen Habermas zur Rolle der Religion in der Öffentlichkeit, weil er plädiert für eine pluralistische Gesellschaft, in der auch diejenigen, die aus der Perspektive einer religiösen Überzeugung sprechen, genauso wie die, die eine ganz weltliche Überzeugung treibt, teilhaben am öffentlichen Streit um Dinge, die uns gemeinsam betreffen und wo es wirklich ums Ganze geht."

In der offenen Gesellschaft, so Habermas, sollen sich Kirchen und Religionsgemeinschaften beteiligen an Fragen des politischen Zusammenwirkens, insbesondere an Grenzfragen, wo es etwa um den Beginn und das Ende menschlichen Lebens geht. In seinen Augen gibt es keinen Vorrang für die Vertreter der säkularen Vernunft gegenüber denen mit religiösen Motiven. Dazu Petra Bahr:

"Entscheidend ist dann aber wiederum und das muss man immer in Richtung der sagen, die ihre Religion vorschieben, dass auch diejenigen, die eine Glaubensüberzeugung haben, gezwungen sind, die mit guten Argumenten vorzutragen."

Fragt man Jürgen Habermas nach seiner Konfession, erklärt der Gelehrte, er sei immer noch Mitglied der Evangelischen Kirche, er zahle Kirchensteuer und verstehe sich als Kulturprotestant. Bekannter hingegen ist Habermas’ Aussage, er sei "religiös unmusikalisch".

Bahr: "Religiös unmusikalisch sind die Leute nach Max Weber, die zwar über Religion nachdenken, aber sich selbst nicht als besonders fromm fühlen. Genau das hat Jürgen Habermas auch kürzlich wieder in einem Interview behauptet, er sei zwar alt, aber immer noch nicht fromm geworden."

Recht verstanden ist Jürgen Habermas weder »religiös unmusikalisch« noch »religiös taub«.

Bahr: "Denn Musikalität meint ja nicht, dass man selber eine große Oper aufführt, sondern dass man ein Sensorium entwickelt für die Fragen der Religion in der Gegenwart."