Relative Versöhnung

Michael Stock im Gespräch mit Frank Meyer · 25.05.2010
Er musste den Film machen, um mit sich "selber irgendwie Frieden zu schließen", sagt Michael Stock. Das Werk, bei dem er Hauptdarsteller, Kameramann und Regisseur in Personalunion ist, kommt nun ins Kino.
Frank Meyer: Viele Jahre lang hat der Filmemacher Michael Stock versucht, einen Film über sexuellen Missbrauch bei den deutschen Fernsehsendern unterzubringen – einen Film über den sexuellen Missbrauch durch seinen eigenen Vater. Das Projekt wurde immer wieder abgelehnt. Jetzt hat Michael Stock diesen Film auf eigenes Risiko gedreht, am Donnerstag kommt der Dokumentarfilm in die Kinos. Und Michael Stock ist jetzt hier im Studio von Deutschlandradio Kultur. Seien Sie herzlich willkommen!

Stock: Ja, danke schön!

Meyer: Ist Ihnen das denn gelungen, was Sie hier am Ende unseres Beitrages gesagt haben, Frieden zu finden mit diesem Film mit Ihrem Vater, der Sie missbraucht hat acht Jahre lang?

Stock: Ja, Frieden gefunden habe ich, glaube ich, schon ein Stück weit, wobei ich jetzt nicht sagen könnte, dass mein Vater derjenige gewesen ist, der zu diesem Frieden letzten Endes beigetragen hat. Das habe ich mir schon mühselig selbst erkämpft. Und insofern ist, ja, das mit der Versöhnung mit meinem Vater relativ, bleibt das relativ.

Meyer: Ihr Vater hat begonnen, Sie zu missbrauchen, als Sie acht Jahre alt waren. Wie war das in Ihrer Familie? Ihre Mutter hat im gleichen Haus gewohnt, zwei ältere Geschwister, und es hat niemand was davon bemerkt?

Stock: Ja, da habe ich natürlich auch als Kind oder als Jugendlicher sehr viel zu beigetragen, dass es niemand merkt, denn ich habe relativ schnell auch als Achtjähriger schon gemerkt, dass da irgendwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Und die Scham, ja, die hat sich ganz schnell auf mich übertragen. Also diese Ekelgefühle, die mein Vater immer empfunden hat, nachdem er sozusagen zum Höhepunkt gekommen sind, die blieben dann letztlich auch als Gefühl bei mir. Ich habe mich so sehr geschämt, dass ich ganz viel dafür getan habe, dass das niemand mitbekommt.

Meyer: Wir haben ja in den letzten Monaten viele Interviews, Gespräche mit Missbrauchsopfern lesen können. Viele berichten davon, dass sie sich selbst mitschuldig fühlen an dem, was da passiert ist. Ist Ihnen das selbst auch so gegangen?

Stock: Ja, selbstverständlich. Das macht es Tätern ja auch so einfach, ihre Opfer zum Schweigen zu bringen. Die Scham, die Schuldgefühle sind so massiv, dass man meistens gar nicht erpresst werden muss. Das schwingt natürlich auch oft noch mit. Man hat schon als Jugendlicher natürlich auch Angst davor, der Grund zu sein, dass die Familie deshalb zerbrechen könnte, was in vielen Fällen ja auch der Fall ist. Ja, das sind also Dinge, die dazu beitragen, den Mund zu halten.

Meyer: Sie haben sich auch immer geweigert, Ihren Vater anzuzeigen, was Ihre Mutter wollte, eine Zeitlang zumindest, auch deshalb, weil Sie Ihre Familie zusammenhalten wollten?

Stock: Gut, da springen wir natürlich jetzt ein paar Jahre, da war ich ja bereits dann schon erwachsen. Also mit 19 habe ich mich da geoutet. Zu dem damaligen Zeitpunkt war es einfach so, dass ich das alles noch hinter mir lassen wollte. Also ich habe fluchtartig meine Heimat verlassen, bin in die große Stadt gezogen, um das ganze Kapitel einfach auch hinter mich zu bringen. Und so ein Prozess hätte für mich bedeutet, das Ganze aktuell aufzurollen, und dem hätte ich damals nicht standhalten können. Also ich war da im höchsten Maße suizidgefährdet und wollte einfach nach vorne denken auch.

Meyer: Ihr Vater hat sich ja jahrelang geweigert, darüber mit Ihnen zu sprechen, jetzt für diesen Film hat er das getan und ist da mit Ihnen zusammen vor die Kamera gegangen. Was war das für ein Erlebnis für Sie?

Stock: Na, ich war natürlich unglaublich aufgeregt. Ich kam mir wieder vor wie der kleine Junge, der vor seinen Vater tritt, nur hatte ich mittlerweile ja eine Kamera dabei und einige Jahre mehr auf dem Buckel und habe mich dann auch natürlich so hinter dieser Filmemacherrolle versteckt und habe da auch ein bisschen Sicherheit gefunden. Und aus diesem Moment heraus ist es mir dann einfach auch gelungen, ihn einfach mal erzählen zu lassen beziehungsweise da ganz nüchtern mir die Antworten von ihm anzuhören, die ja sehr banal sind, aber eben halt in ihrer Banalität auch unglaublich brutal.

Meyer: Was einen erstaunt, wenn man diesen Film sieht – und ich habe ihn vor Kurzem sehen können –, dass es ein Film eigentlich ist ohne Hass, dass Sie ohne Hass auch Ihrem Vater offenbar begegnen können, wobei man sich ja fragt, auch wenn Sie selbst sagen, wie lange Sie gebraucht haben, wie unglaublich Sie gelitten haben unter dieser Geschichte: Wie sind Sie diesen Hass losgeworden oder war der nie da?

Stock: Der war natürlich da, dieser Hass, der war so doll da, dass ich ihn eben nicht mehr ausgehalten habe. Und der Hass, der hat sich ganz oft einfach auch nach innen gerichtet, sprich, ich war jahrelang sehr autoaggressiv in jeglicher Form - ob das nun Drogen betrifft oder vielleicht auch als Folgeerscheinung meine eigene HIV-Infektion, dann auch der Selbstmord meines damaligen Lebenspartners, der eine ähnlich komplizierte Geschichte mit seinem Vater hatte, die Aussöhnung mit dem meinen immer forcierte, die dann scheiterte – das waren alles Momente, wo ich so unglaublich voller Hass war, und das hat mich letzten Endes ja auch fast zerstört. Und mit dem Älterwerden habe ich einfach gemerkt, ich komme da nur raus, wenn ich versuche, da mit mir selber irgendwie Frieden zu schließen. Das heißt, dieser Versöhnungsprozess, der hat in allererster Linie erst mal in mir stattgefunden und nicht direkt mit dem Täter.

Meyer: Und ein Teil dieses Versöhnungsprozesses oder des Versuches, mit dieser Geschichte zurechtzukommen, war immer dieser geplante Film, den Sie schon lange machen wollten zu diesem Thema, seit 20 Jahren. Sie haben in Interviews erzählt, dass dieses Projekt mehrfach gescheitert ist, weil Verantwortliche bei Fernsehanstalten das abgelehnt haben. Was haben Sie da für Gründe erfahren?

Stock: Ja, es war ja erst mal andersrum. Sie haben es immer erst mal angenommen, denn wenn sich niemand dafür interessiert hätte, hätte ich natürlich angenommen, okay, ja, das interessiert niemanden. Aber es gab eben eine Drehbuchförderung nach der anderen und eben auch oft schon Produktionsmittel, um den Film zu finanzieren. Letzten Endes ist es immer wieder gescheitert, und diese Gründe bleiben teilweise ungeklärt, aber hatten also oftmals damit zu tun, dass zum Beispiel die Hauptfigur sich mit seinem Vater aussöhnen will. Das Buch hatte auch früher schon mal den Titel "Die Aussöhnung". Das war so ein Fakt, mit dem Redakteure nicht umgehen konnten. Vielleicht auch damals das Problem, dass die Hauptfigur schwul und auch HIV-positiv war, was nicht unbedingt Prime-Time-tauglich ist. Ja, und vielleicht war einfach auch nicht die Zeit reif. Jetzt durch diese Vorfälle, gerade in Bezug auf die Kirchen, scheint die Gesellschaft einfach mittlerweile so weit zu sein, dass darüber geredet werden kann.

Meyer: Sie haben ja Ihren Dokumentarfilm zum ersten Mal gezeigt bei den Berliner Filmfestspielen, also im Februar, da waren gerade die ersten Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg bekannt geworden. Seitdem gab es ja diese ganze Welle eben von Enthüllungen. Wie beobachten Sie denn diese Debatte heute über den sexuellen Missbrauch von Kindern, von Jugendlichen, wie bei Ihnen? Haben Sie den Eindruck, da ist wirklich grundsätzlich etwas aufgebrochen in unserer Gesellschaft?

Stock: Das scheint schon so zu sein, sonst würden sich nicht so viele Opfer melden. Man fragt sich natürlich, warum tun sie es jetzt erst. Also ich denke mal, gerade auf diese Kirchengeschichten ist es so, dass viele Männer überhaupt erst ab 30 anfangen, über so Geschichten oder über solche Trauma zu sprechen, denn mit 30 ist die sexuelle Identifikation irgendwie abgeschlossen. Man hat vielleicht nicht mehr so Angst, als schwul gelten zu können, sprich diese Doppeltabuisierung, die für viele Missbrauchsopfer ja ein Problem ist, die fällt dann vielleicht schon weniger ins Gewicht. Das mag ein Grund sein, warum dann ab 30 Männer sich öfters mal dazu bekennen, eben auch ein Opfer zu sein. Und dann, denke ich, ist vielleicht auch so ein Film wie meiner ein Beispiel für andere, sich mit ihren Missbrauchsgeschichten mal zu Wort zu melden.

Meyer: Der Film "Postcard to Daddy" von Michael Stock, der erzählt vom jahrelangen Missbrauch durch seinen Vater, am Donnerstag, also in zwei Tagen, kommt der Dokumentarfilm in unsere Kinos. Herr Stock, vielen Dank, dass Sie da waren!

Stock: Ja, ich danke auch!