Rekonstruierte Vergangenheit

15.09.2010
Judith Zander siedelt ihr Romandebüt in einer Landschaft an, die oft als eintönig bezeichnet wird und deren Bewohner recht wortkarg sind. Es ist Vorpommern, jene Gegend zwischen Ostsee und Brandenburg, zu der die größten deutschen Inseln Rügen und Usedom gehören.
Dass diese Landschaft von einer reizvollen Musikalität des Plattdeutschen beherrscht wird, hat kein Geringerer als der aus Cammin in Vorpommern stammende Schriftsteller Uwe Johnson mit seinen Texten belegt. Die 1980 ebenfalls in Vorpommern (Anklam) geborene Autorin ist davon überzeugt: "Seit Uwe Johnson kann man einen der häufigsten Laute des Plattdeutschen richtig schreiben", und meint damit das "lange offene O", das es eigentlich nicht gibt.

Im Zentrum der Handlung steht das Dorf Bresekow. Ein Ort, den es in Wirklichkeit nicht gibt und von dem doch mit solcher Kraft und Lebendigkeit erzählt wird, dass man ihn längst zu kennen meint. Für Romy, mit deren Erzählstimme der Roman beginnt, ist Bresekow allerdings das "kleine Kaff im Hinterland". Bereits ihre Mutter sprach von der "dussligen Heimat" und ihr Vater nannte den Ort eine "Sammelstelle für Bekloppte". Derlei abfällige Kritik an der Provinz ist in der Literatur nicht neu und doch ist sie im deutschen Kontext seit 1989 von besonderer Brisanz.

Dem Roman liegt ein klassisches Sujet zugrunde. Der Tod der alten Anna Hanske ruft ihre Tochter Ingrid, die seit Jahren in Irland lebt, noch einmal an den Ort ihrer Herkunft zurück. Anna muss beerdigt und ihr Haus verkauft werden. Als Ingrid einst über Nacht verschwand, waren viele ratlos. Nur einige wussten, warum sie – wie es offiziell hieß – "Republikflucht" beging. Doch sprach niemand darüber, was geschehen war. Ihr Schweigen legte sich wie eine Folie über das Geschehen.

Um die Leichen im Keller zu bergen, wird das Geschehen von verschiedenen Stimmen aus der personalen Perspektive heraus erzählt. Die Lebenslinien von Ingrid, Henry, Paul, Sonja und Pastor Wietmann, um nur einige zu nennen, sind ineinander verknäult, aber wo genau sie sich berühren, bleibt lange im Dunkeln. Das sorgt für Spannung. Zudem gibt die Autorin ein enormes Erzähltempo vor, bei dem unentwegt neue Geschichten hervorbrechen. Mit sprachlicher Eleganz schlüpft Zander in die verschiedenen dialektalen Klänge des Platt- und Hochdeutschen und leuchtet dadurch die Figuren – selbstredend – von innen heraus aus.

So entsteht ein üppiges Erzählpanorama, in dem drei Generationen ihren Lebensplan Stück für Stück rekonstruieren. Da kein Erzähler die Fäden in der Hand hält, erfordert diese vielstimmige Erzählweise ein konzentriertes Lesen. Spürsinn und Entdeckerlust sind ebenfalls gefragt. Nach 480 Seiten intensiver Lektüre stellt man erstaunt fest, dass sich keine Erschöpfung eingestellt hat. Eigentlich könnte es ewig so weiter gehen.
Besprochen von Carola Wiemers

Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten
Roman
dtv premium, München 2010
480 Seiten, 16,90 Euro