Reiseführer für Braunschweig und Umgebung

Jüdische Kultur und Geschichte erfahrbar gemacht

Innenausstattung der Hornburger Synagoge. Mittelpunkt der Jüdischen Abteilung des Braunschweigischen Landesmuseum
Hornburger Synagoge: Unbeschädigt aus makabrem Grund © Marek Kruszewski
Von Michael Hollenbach · 22.09.2017
Katrin Keßler und Ulrich Knufinke teilen ihr Wissen über jüdisches Leben in der Region. Sie servieren detailreich und zweisprachig. Ihre Hoffnung: Wenn viele Touristen kommen, schauen auch die Einwohner noch genauer hin.
Von Peine bis Halberstadt, vom Harz bis in die Südheide präsentiert das Buch zahlreiche Stätten jüdischen Lebens. So zum Beispiel in dem Heideort Steinhorst. Dort errichtete die Simon‘sche Stiftung 1908 ein landwirtschaftliches Schulgebäude und ein Wohnheim für jüdische Lehrlinge, erbaut von einem der damals führenden Architekten, Heinrich Tessenow.

Bauland dem Moor abgerungen

Um dem antisemitischen Vorwurf zu entgehen, die Juden würden die einheimischen Bauern von ihrem Land verdrängen, wollte man vor allem Heide- und Moorland in landwirtschaftliche Nutzfläche umwandeln. In dem Reiseführer heißt es:
"Wussten Sie, dass das Lehrlingswohnheim ab dem Jahr 1926 vom Norddeutschen Fußballverband als Erholungsheim genutzt wurde? Hier haben einige spätere Bundesligaspieler in ihrer Jugend ihre Ferien verbracht."

Apfelsinenball wegen eine Spende

Heute nutzt die Gemeindeverwaltung das "Tessenow-Haus" – nicht nur die Davidsterne in den Toilettenräumen erinnern an die jüdische Vergangenheit.
Die kleinen "Wussten Sie"-Einschübe in dem Reiseführer bringen immer wieder interessante Informationen:
"Wussten Sie, dass der Gifhorner Apfelsinenball durch die Großzügigkeit eines jüdischen Ehrenbürgers seinen Namen erhielt? Das Fest verdankt seine kuriose Bezeichnung Alexandr Menke, der zum Winterball des Uniformierten Schützenkorps Gifhorn alljährlich Apfelsinen spendete."

Highlight im Museum

Zu den Zielen des Kulturführers zählt auch das jüdische Museum in Braunschweig. Dessen Highlight: die alte Synagoge aus Hornburg, die den Nationalsozialismus unbeschädigt überstanden hat. Ulrich Knufinke ist einer der Autoren des Buches:
"In ganz Norddeutschland gibt es keine ältere Synagogenausstattung und es gibt keine, die den Zustand vor den Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts wiederspiegelt. (..) Der ganze Raum ist in einzigartiger Weise erlebbar."
Dass die Synagoge überlebt hat, lag makabrerweise an der nationalsozialistischen Kulturpolitik. Die Synagoge war damals schon im ‚Vaterländischen Museum‘ in Braunschweig zu sehen und wurde von den antisemituschen Kuratoren als "Fremdkörper der deutschen Kultur" präsentiert.

Jüdische Viertel in Peine

Die jüdische Gemeinde in Peine gehört zu den ältesten in der Region. ‚Auf dem Damm‘, so hieß das jüdische Viertel in der Kleinstadt zwischen Braunschweig und Hannover. Ende des 19. Jahrhundert waren viele jüdische Bürger zu Wohlstand gekommen, hatten sich in der Innenstadt angesiedelt und eine liberale Gemeinde gegründet. Ins alte Dammviertel zogen damals jüdisch-orthodoxe Familien aus Osteuropa: Knufinke berichtet:
"Aus einer solchen Familie stammt Sally Perel, der ‚Hitlerjunge Salomon‘, der dort in diesem traditionellen jüdischen Viertel in eine eingewanderte jüdische Familie hineingeboren ist. (…) Dieses jüdische Viertel ist zum großen Teil erhalten, man findet sogar noch den Standort der Synagoge."
Die 1714 erbaute Synagoge wurde 1907 abgerissen; die Steine des Bethauses nutzte man aber für ein neues Wohnhaus, das heute dort noch steht.

Wo "Nathan der Weise" reifte

Der Merian-Guide führt den Leser auch nach Wolfenbüttel, wo Gotthold Ephraim Lessing mit dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn diskutierte. Aus diesen Gesprächen entstand sein Nathan, der Weise.
Das Buch führt die Touristen außerdem zu Orten des nationalsozialistischen Grauens wie der KZ Gedenkstätte Drütte, aber dokumentiert auch Überlebensgeschichten wie die vom Sattlermeister Julius Katz, der durch die Solidarität der Dorfbewohner von Groß Oesingen überleben konnte. Und der Leser erfährt viel über die Wurzeln des Reformjudentums. Der Bankier Israel Jacobsonhat hat vor allem im westlichen Harzvorland, in Seesen, seine Spuren hinterlassen. Der Kunsthistoriker Joachim Frassl ist hier der Experte für jüdisches Leben:
"Wir befinden uns hier (…) im Zentrum des Geburtsortes des liberalen Judentums und der Reform, die Anfang des 19. Jahrhunderts durch Israel Jacobson initiiert worden ist."

Internatsgründung in Seesen

Vom Markplatz aus schaut man auf die Reste der ehemaligen jüdischen Freischule. 1801 hat Israel Jacobson ein Internat gegründet, um der Bildungsmisere der jüdischen Jugendlichen in ländlichen Regionen entgegenzuwirken. Ausgerechnet in Seesen, wo es nur wenige Juden gab.
"Er wollte seine Reformideen dort verwirklichen, wo ihm eine gewachsene Gemeindeorthodoxie nicht dazwischen reden konnte."
Manche der kleinen Geschichten dürften vielen Leserinnen und Lesern unbekannt sein. Wer weiß schon, dass das beliebte Ausflugsziel, das alte Kloster Wöltingerode, einmmal in jüdischem Besitz war. Bankier Jacobson, einer der Begründer des Reformjudentums, hatte das Kloster 1809 gekauft und dort gewohnt, berichtet Ko-Autorin Katrin Keßler:
"Er musste es dann mit dem Ende des Königreich Westfalen 1815 verkaufen, weil dieser Bereich wieder zu Hannover gehörte und es Juden nicht erlaubt war, Grundeigentum zu haben. Diese ganzen Auflockerungen, die es unter dem Königreich Westfalen gab, wurden wieder zurückgenommen."

Zielgruppe auch amerikanische Touristen

Der Führer "Jüdische Kultur und Geschichte in der Region Braunschweig-Wolfsburg" wendet sich zweisprachig auch an amerikanische Touristen, die die Region besuchen. Ulrich Knufinke wünscht sich,
"dass viele Menschen diese Orte aufsuchen. (…) Je mehr Menschen danach fragen, sich damit beschäftigen, um so größer ist auch die Dringlichkeit, diese Orte zu erhalten, zu pflegen."
Seine Hoffnung: Je mehr Touristen und Ausflügler sich vor Ort nach den jüdischen Spuren erkundigen, desto mehr erfahren auch die Einwohner über ihre jüdische Geschichte.

Katrin Keßler/Ulrich Knufinke: "Jüdische Kultur und Geschichte in der Region Braunschweig-Wolfsburg"
Merian, 2017
144 Seiten, 11.99 Euro

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