Reimer Gronemeyer: "Die Weisheit der Alten"

Schätze, die für immer verloren gehen

Buchcover Reimer Gronemeyer: "Die Weisheit der Alten"
Die Senioren werden abgehängt vom Fortschrittszug, schreibt Reimer Gronemeyer. © Herder Verlag / dpa / Christian Charisius
Von Susanne Billig · 10.04.2018
Senioren, die mit Kreuzfahrtschiffen um den Globus irren, oder Alte, die in Heimen vor sich hindämmern: Reimer Gronemeyer beklagt in seinem Buch, dass das Wissen, die Erfahrungen und Erkenntnisse alter Menschen missachtet und vernichtet werden.
Mut, Liebe, Erinnerungen, Erfahrungen, Gelassenheit, Tradition und ein kluges Wissen um die Grenzen des Wissens – das sind die sieben Schätze, die Reimer Gronemeyer in seinem neuen Buch "Die Weisheit der Alten" nennt.
Doch diese Weisheit wird missachtet und verdrängt, beklagt der Soziologe. Der Fortschrittszug hat sie abgehängt, die Langsamen und Bedächtigen, die lieber mit einem Menschen persönlich sprechen, als ihm Textnachrichten zu zappen, oder sich eine altmodische Mahlzeit kochen, als im Eilschritt, den Blick fest aufs Smartphone geheftet, bunte Wraps aus den geschmacklosen Zutaten globalisierter Warenströme hinunter zu schlingen. Empört wendet sich Reimer Gronemeyer gegen die immer schnellere Vernichtung gewachsenen Wissens, essayistisch vagabundierend zwischen intakten dörflichen Gegenwelten irgendwo in Afrika, den ökologischen Missetaten der industrialisierten Landwirtschaft und alten Menschen, die sich nicht mehr zurechtfinden in dieser fortschrittstrunkenen Welt.

Die Grenze verläuft nicht zwischen Alt und Jung

Das liest sich kraftvoll und berührend, gerade weil sich hier ein Mensch an der Schwelle zum höheren Alter in seinem persönlichen Ringen sichtbar macht. Leider gleicht Reimer Gronemeyers analytisches Vorgehen dem des Mannes, der seinen verlorenen Schlüssel unter einer Laterne sucht, nur weil dort Licht scheint. Als bewundernswert engagierter Experte für hohes Alter und Demenz bringt er die Generation Smartphone gegen die abgedrängten Alten in Stellung, um ökonomische und soziale Missstände zu reflektieren. Doch die Grenze zwischen denen, die sich auf dem Fortschrittszug halten können, und denen, die hinunter fallen, verläuft nicht zwischen Alt und Jung. Das zeigt ein Blick auf die vielen Jugendlichen ohne Arbeit und Ausbildungsplatz und auf die Schulkinder, die den Tribut an die Fortschritts- und Leistungsgesellschaft nicht weniger zahlen müssen als aussortierte Alte.

Die Erklärungen greifen zu kurz

Voller Zärtlichkeit schreibt der Autor über Achtzigjährige, die auf Kreuzfahrtschiffen sinnlos über den Globus irren oder mit erlöschenden Augen in Altersheimen dämmern, weil sie zu dieser Welt scheinbar nichts mehr beizutragen haben. Die Wahrheit aber ist: Viele von ihnen haben in den sogenannten besten Jahren ihres Lebens den Fortschrittsmythos ebenfalls munter bedient. Die autogerechten Städte und einbetonierten Flüsse, die Vernichtung der bäuerlichen Landwirtschaft und die neoliberale Preisgabe gewachsener Lebensbezüge: Alles das haben ja nicht die 20-jährigen Smartphone-Fans von heute ersonnen. Umgekehrt ist dem Autor junges Aufbegehren, artikuliert in Urban Gardening und veganem Leben, Occupy Wallstreet, Autoverzicht oder Mehrgenerationenhäusern, kein einziges Wort wert.
Reimer Gronemeyer wird um die Ursache der Gegenwartsmisere wissen – ein Wirtschaftssystem, das unkontrolliert wuchert und Natur und Menschen unterschiedslos verschlingt. Leider hat er sich mit dem Jung-gegen-Alt-Mythos für eine Perspektive entschieden, die seine Empörung nicht schlüssig trägt.

Reimer Gronemeyer: Die Weisheit der Alten - Sieben Schätze für die Zukunft.
Herder Verlag, 2018
216 Seiten, 25 Euro

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