Reihe: Wirklichkeit im Radio

Wer hat Angst vor dem Milchmann?

72:55 Minuten
Zwei Männer lesen Handzettel der Polizei, mit denen nach gesuchten RAF-Terroristen gefahndet wird, aufgenommen am 02.06.1978 in Berlin
Zwei Männer lesen Handzettel der Polizei, mit denen nach gesuchten RAF-Terroristen gefahndet wird © picture-alliance/ dpa / Konrad Giehr
Von Theo Gallehr  · 24.11.2018
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Deutschland im Herbst 1977. Eine Reise durch die Republik zeigt Stammtische, Schützenvereine, Stimmen der Polizei und Szenen von der Beisetzung der in Stammheim umgekommenen RAF-Terroristen.
Herbst 1977. Hans Martin Schleyer wurde von RAF-Terroristen entführt. Im Autoradio kommen stündlich Nachrichten über den Fortgang der Fahndung. Die politische Atmosphäre ist aufgeheizt, die Erregung auf allen Seiten riesengroß. In genau dieser Stimmung machen Theo Gallehr und seine Kollegen Aufnahmen an Stammtischen, auf der Straße, bei Hundezüchtern, Waffenverkäufern und bei der Beerdigung von Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Sie zeichnen das Bild einer mit verbaler und realer Gewalt schockierend aufgeladenen Gesellschaft.

Wer hat Angst vor dem Milchmann?
Feature von Theo Gallehr
Regie: der Autor
Mitarbeit: Rita Quittek
Produktion: RB 1979
Länge: 53'47

Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
Was genau Theo Galler in seinem Feature dokumentieren will, ist nicht klar zu fassen. Am ehesten ließe sich sagen: er dokumentiert eine Reise durch die Bundesrepublik im Herbst 1977. Ohne genaues Reiseziel verschlägt es ihn von Nord nach Süd und querfeldein durch die sogenannte deutsche "Provinz". Er besucht Hundezüchter und Waffenverkäufer, Hausfrauen und Kneipengänger, macht zufällige Bekanntschaften auf der Straße und bei Beerdigungen und immer dabei ist das Mikrofon, das sich weder für Namen noch Berufe interessiert, sondern allein auf die Sprache, die Befindlichkeit des Augenblicks abzielt.
Angestoßen wird die Reise jedoch von außen: durch einen – nie im O-Ton zu hörenden – "kanadischen Freund", der angeblich einen Tag nach Hans Martin Schleyers Entführung durch die R.A.F. für Recherchen nach Deutschland kommt, diese aber nach nur wenigen Wochen "verbittert" und "überstürzt" abbricht. Nicht jedoch, ohne uns in einem offensichtlich nachgestellten O-Ton mit norddeutschem Akzent gesprochenen Satz eine Nachricht auf englisch zu hinterlassen: "You don’t have to fear a fascistoid regime, you are having it already."
Ausgestattet mit diesem spin setzt der Autor Theo Gallehr die abrupt abgebrochene Mikrofon-Recherche seines (fiktiven?) Freundes fort.
Es ist der Instinkt des Reporters und Dokumentarfilmers, der Theo Gallehr in diesen historischen Tagen, in den vibrierenden Wochen zwischen Entführung und Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, ausschwärmen lässt, die Gesellschaft auf ihre politische Fieberkurve hin zu untersuchen. Das Mikrofon wird hier zum Thermometer. Es zeichnet weit mehr auf, als nur das gesprochene Wort. Es dokumentiert Töne der Angst und der Irritation. Angst vor Terrorismus auf der einen und Angst vor dem repressiven Polizeistaat auf der anderen Seite. Blanker Hass und Wut schlägt ihm auf der Straße entgegen, repressive Gewaltphantasien gegen die RAF-Mitglieder ebenso wie den paranoid erscheinenden Wahn ihrer Sympathisanten. Und immer hält der Autor das Mikrofon in beide Lager. Dabei aber sucht Gallehr stets die Stimme des Einzelnen, lässt, auch am Stammtisch, nur den Einzelnen zu Wort kommen und kontrastiert dessen Bilder und Sprechweise mit der (manchmal nüchternen, manchmal sehr tendenziösen) Schlagzeilen-Sprache der meinungsbildenden Medien der Zeit. Die öffentliche und die private Sprache einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Auch das Radio-Medium selbst mischt in diesem Spiel kräftig mit und setzt die Schlagwörter, die sich dann im Originalton, in den "persönlichen Meinungen" vermündlicht wiederfinden. Hier vollzieht der Autor Medienkritik via Montage: Wenn zum Beispiel bei Minute 9 aus dem Autoradio "…die bewundernswerte Mischung von Härte und Beharrlichkeit, von Augenmaß und Kaltblütigkeit" auf Staatsseite gepriesen wird und schon im darauf folgenden Originalton ein schwäbischer Bürger seine entfesselte Folterphantasie, wenn nicht an den Terroristen selbst, so doch wenigstens verbal ins Mikrofon knarzen darf. – Gallehr fragt nicht nach Ursache und Wirkung, sondern dokumentiert schlichtweg die Dynamisierung eines Diskurses.
Uns, den Feature-Autoren, zeigt es exemplarisch, was geschieht, wenn wir unsere Komfort-Zone verlassen und mittels Interviews und zufälligen Gesprächen einen weiten Horizont an Haltungen aufmachen, mitunter (politischen) Positionen eine Stimme geben, die unseren persönlichen und dem common sense der politischen Korrektheit vielleicht konträr entgegenstehen. Die heute diskutierte Frage, ob man "mit Rechten reden" solle, beantwortete Theo Gallehr mit diesem Stück ganz klar: mit ja. Sollen undemokratische, extremistische Positionen und zu Gewalt anstiftende Ressentiments öffentlich (-rechtlichen) Raum erhalten? Darf man das? Muss man das? Diese Frage hat seinerzeit der verantwortliche Sender Radio Bremen ebenfalls mit Ja beantwortet.
Aber wie hält man das aus? Als AutorIn, als HörerIn? Das schadenfrohe, mitunter blutrünstige Stammtisch-Gelächter, die herbei gewünschten Erschießungskommandos, die Diskussionen, ob den Staat eine Rechtssprechung durch den Strick günstiger kommt, als durch Gas? Wie hält man solche drastischen Positionen aus, als öffentlich-rechtlicher Sender, als Gesellschaft? Solche Stimmen im eigenen Stück? Haben wir uns gefragt. Konnten wir den Autor Theo Gallehr leider nicht mehr fragen, denn er ist bereits im Jahre 2001 verstorben.
Sein langjähriger Kollege und Freund, der Filmregisseur Rolf Schübel, beschreibt Theo Gallehr als einen Dokumentaristen ohne Berührungsängste, der anhand der "dialektischen Montage" eine eigene Methode entwickelt habe, extremen Positionen zu reflektieren.
Aus unserem kollektiven Hörprotokoll:
Gallehr gelingt, hier Stillstand und Brodeln zugleich zu dokumentieren, den alten Kampf der Kräfte: die Besonnenen und die Hysteriker, die Beobachter und die Brachialen.
Und die Parallele zu unserer Zeit ist bedrückend.
Endlich mal ein aktuelles Stück! Wenn auch fast 40 Jahre alt. Mir ging es sofort unter die Haut und ich hatte hohen Puls, als ich die Stammtische hörte.
die Aktualität, die Abgründe, die in den O-Tönen aufscheinen, die absolut stimmige Form des Roadmovies
Dann aber auch die kritisch hinterfragenden Stimmen der Kollegen:
Bin fassungslos, wie offen die Stammtische ihre Gewaltfantasien äußern. Aber auch, wenn ich das bekannte Statement der Terroristen wieder höre über die klägliche Existenz Schleyers, dessen Tod bedeutungslos sei – was für ein furchtbarer Panzer aus Ideologie, den sich diese Weltverbesserer angelegt haben.
Die "Polarisierung der Gesellschaft" mache auch "vor den Journalisten nicht halt. Und finde es deshalb relevant, weil dadurch Erkenntnismöglichkeiten verloren gehen.
Wir fanden keine befriedigende Antwort auf die Frage, ob nun eben "der persönliche Ansatz eine Stärke des Stücks" sei oder ob wir uns mit dem Autor wieder nur im Bereich des Erwartbaren bewegen, also nicht als unabhängiger Beobachter und Chronist, sondern als Akteur in einem politischen Polarisierungskampf.
Theo Gallers dokumentarische Arbeit stellt die Frage nach der Rolle des Autors im Feature. Ob man den objektiven, unverwickelten, also neutralen Erzähler überhaupt einfordern kann. Ob in einem Medium, in dem gesprochene Sprache zum "Material" wird, in einem Genre, das mit Schnitt und Collage arbeitet, in dem der Autor regelmäßig, je intensiver er recherchiert und aufgenommen hat, zu immer weiterer Reduktion genötigt ist, ob unter solchen Küchenbedingungen also, überhaupt die heilige Objektivität des Journalismus angemahnt werden kann.
Ein auf der Straße befragter Bürger moniert, es gebe "heute nur noch entweder/oder" und damit verbunden die Aufforderung zum Bekenntnis. Gallehr hingegen entzieht sich dieser diskursiven Zwangsjacke und erhält sich in seiner Autorenschaft, am Schneidetisch sozusagen, eine dritte, eine beobachtende und letztlich erzählerische Position. "Wer hat Angst vor dem Milchmann" wurde vor 40 Jahren urgesendet und spätestens heute kann man mit Gewissheit sagen, dass das vom Autor formulierte Grundanliegen des Stückes, "mündliche Geschichte" zu schaffen, geglückt ist.
Giuseppe Maio

Biografie
Geboren am 15.07.1929 in Lehr. Gestorben am 2. September 2001 in Hamburg.Theo Gallehr war Kneipenwirt in München und bis 1962 Fernseh-Regisseur beim Bayerischen Rundfunk.
 
Lernte Rolf Schübel kennen, der sein Regie-Assistent wurde. Später arbeiteten sie als ‚Cinecollectiv‘ zusammen. 
Zu ihren gemeinsamen Dokumentarfilmen für den WDR und NDR gehören beispielsweise "Der deutsche Kleinstädter" (1968) und "Rote Fahnen sieht man besser" (1970/71); beide Filme wurden mit dem Adolf Grimme-Preis ausgezeichnet. Dieser Film war gewissermaßen der Auftakt für ein neues Filmgenre in der Bundesrepublik, den sogenannten "Arbeiterfilm".
 
1971 und 1972 erhielten Theo Gallehr und Rolf Schübel den Preis der Deutschen Filmkritik (FIPRESCI).
Ausgewählte Radiostücke
"Wunschkost" (SR 1998)
"Das Pferd, das den Karren zieht
" (NDR 1974)
"Der Eine war der andere, und der andere war keiner
" (NDR/SFB 1977)