Reichholf: Artensterben ist "nicht mehr als eine Vermutung"

Josef H. Reichholf im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 25.10.2010
Für den Evolutionsbiologen Josef H. Reichholf ist die These, dass täglich mehrere Dutzend Arten aussterben, nur eine Annahme, "die sich aber auf Unkenntnis des Artenbestandes der Erde bezieht". Hingegen sei in den letzten zehn Jahren "so gut wie keine einzige bekannte Art ausgestorben".
Stephan Karkowsky: Halbzeit auf der UN-Artenschutzkonferenz in Japan. Noch bis Freitag wird dort über das Aussterben der Arten diskutiert und über die Vorzüge der Vielfalt, der sogenannten Biodiversität. Doch warum eigentlich? Lasst die Natur doch machen, fordert der Evolutionsbiologe Professor Josef H. Reichholf schon lange. Sie brauche dazu kein ökologisches Gleichgewicht, sondern ein stabiles Ungleichgewicht. Herr Reichholf, sollte man sich denn dann diese Großkonferenzen mit 8000 Ökoexperten demnächst sparen?

Josef H. Reichholf: Als Konferenz wahrscheinlich schon, denn erfahrungsgemäß steht das Ergebnis solcher Großkonferenzen im krassen Missverhältnis zum Auffand, der betrieben wird. Wir wissen ja – wir, das heißt also diejenigen, die sich um den Artenschutz kümmern –, was die Hauptgründe für den Rückgang und für die Gefährdung von Arten sind, dazu braucht man keine große Konferenz einzuberufen. Und wir wissen auch, was gemacht werden könnte, sollte – das Sollen ist meist ein höherer Anspruch als das, was realisierbar ist –, und was dann aber doch nicht gemacht wird. Denn seit Rio 1992 liegen die Konzepte vor und was herausgekommen ist, das ist so gut wie nichts.

Karkowsky: Sie sagen, wir wissen das, aber der Sinn von Konferenzen ist doch, neue Erkenntnisse zusammenzutragen. Gibt es die nicht?

Reichholf: Es gibt sie eigentlich nicht, denn die Kenntnisse, die im Detail hinzukommen, betreffen die ein oder andere Art oder Artengruppe, aber nicht das Grundsätzliche. Das Grundsätzliche ist, wie schon betont, seit Langem bekannt, der Hauptverursacher der Artenrückgänge, der Bedrohung der Arten, ist nicht der Mensch ganz allgemein und es sind auch nicht die Menschenmassen, die alljährlich durch die Vermehrung der Menschheit neu hinzukommen, sondern es ist die großflächige landwirtschaftliche Ausbeutung der Tropen und der Subtropen für Produkte, die Europa, China oder Nordamerika haben wollen. Und diese Großen sind es, die ihre Ressourcen in neokolonialistischer Weise aus den Tropenländern holen, die sie selbst im Land nicht haben. Und sie sind allesamt eigentlich von der Grundvoraussetzung auch nach Nagoya gegangen, dass die Landwirtschaft weitgehend ein Tabuthema bleibt.

Karkowsky: Landwirtschaftliche Ausbeutung, die wiederum vom Menschen natürlich verschuldet ist. Da hat diese Artenschutzkonferenz ja drei wichtige Prämissen. Erste: Weltweit sterben täglich Arten aus. Zweitens: Das muss verhindert werden, denn die Biodiversität ist wichtig. Und drittens: Der Mensch hat's verbockt. Da widersprechen Sie ja gleich zweien dieser Prämissen, oder?

Reichholf: Ja, im Grunde genommen allen dreien. Denn der Mensch, das ist mir zu allgemein. Es sind eben bestimmte wirtschaftliche Interessen von reichen Ländern, die Hauptverursacher sind und den Hauptgrund liefern für die Entwicklungen; und dass täglich oder jährlich so und so viele Arten aussterben, ist eine Annahme, eine Art Hochrechnung, die sich aber auf Unkenntnis des Artenbestandes der Erde bezieht. Die Arten, die wir kennen, die können wir erfassen, und nach allem, was mir bekannt ist, ist in den letzten zehn Jahren so gut wie keine einzige bekannte Art ausgestorben. Wir haben also ein großes Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen Kenntnisstand, und der besagt, seit dem 19. Jahrhunderts ist die Rate des Aussterbens von Tier- und Pflanzenarten rückläufig und in unserer Zeit fast auf Null gegangen ...

Karkowsky: ... vielleicht ist das ja der Erfolg der Artenschützer?

Reichholf: Das ist der Erfolg einer veränderten Einstellung insbesondere zu den größeren Tieren. Dass die Wale gerettet werden konnten, liegt ja nicht daran, dass die Nutzer, die früheren Nutzer der Wale zu Einsichten gekommen wären – manche Länder haben die ja heute noch nicht –, sondern es ist der Druck der öffentlichen Meinung, was Wale als Lebewesen anbelangt. Und dasselbe gilt für den großen Panda oder für die Diskussion um den Eisbären, denen das Eis wegschmilzt und so weiter. Also wir haben plakative Arten, die ins öffentliche Bewusstsein eingegangen sind, und diese, weil bekannt gewordenen Arten lassen sich effizient schützen. Was vermutet wird, nämlich dass viele, viele Hunderte oder Tausende oder gar Zehntausende Arten aussterben, die wir nicht kennen, ist zwar eine nicht unbegründete Vermutung, aber eben auch nicht mehr als eine Vermutung.

Karkowsky: Sie hören zur UN-Artenschutzkonferenz im japanischen Nagoya den Evolutionsbiologen Professor Josef H. Reichholf. Herr Reichholf, was halten Sie denn generell von der Idee, der Mensch könne die Natur steuern und das Artensterben verlangsamen oder sogar verhindern?

Reichholf: Also die Vorstellung, die Natur steuern zu wollen, ist sozusagen die Übersteigerungsform von Hybris, das ist eine menschliche Überheblichkeit, über die man eigentlich, wenn man die Natur ein wenig nur kennt, nur müde lächeln kann oder eigentlich erzürnt sein müsste über diese Art von Anmaßung.

Karkowsky: Ich darf Ihnen mal ein paar Beispiele nennen: Es wurden ja Tiere mittlerweile wieder ausgewildert, also in Sachsen und Brandenburg leben Wolfsrudel, im Harz und im Weserbergland Luchse, bei Trier sogar ein schwarzer Panther – kleiner Scherz, der ist zuvor ausgebüxt aus einem Gehege. Aber dann müsste Ihnen doch als Zoologe das Herz aufgehen über die Rückkehr der Tiere in ihre alten Jagdgründe, oder?

Reichholf: Das tut es auch, und ich war ja auch selbst maßgeblich beteiligt von der wissenschaftlichen Seite bei der Wiedereinbürgerung des Bibers in Bayern und in anderen Regionen Mitteleuropas, und das war ein so großer Erfolg, dass die Schäden, die die Biber inzwischen verursachen, eigentlich genau diesen Erfolg bestätigen. Wenn eine Art dann häufig genug geworden ist, dass ihr Tun als Schaden empfunden wird, dann ist es ja in der Regel ein gutes Zeichen, so verrückt das klingen mag.

Wir haben diese Erfolge und wir haben sie bei solchen Arten, die vorher aktiv verfolgt wurden, deren Ausrottung eigentlich jahrhundertelang das Ziel war im Falle der Wölfe oder bei den Adlern und anderen Greifvogelarten oder Raubtieren. Das hat sich geändert, das ist einer der ganz großen Erfolge des Artenschutzes im Speziellen und des Naturschutzes ganz allgemein. ^

Aber die Vorstellung, dass alles schlechter würde in der Natur, die ist dennoch weit verbreitet gerade in unserem Land, obwohl die Verhältnisse sich nicht bei uns verschlechtern – da sind sie besser geworden –, sondern in Regionen, die wir eben mit unserer Art zu wirtschaften ausbeuten. Und das liegt uns so fern und deswegen schwingt, so mein Eindruck, in solchen Großkonferenzen das schlechte Gewissen ganz entscheidend mit.

Karkowsky: Nun sind wir in Japan mit dieser UN-Artenschutzkonferenz, da fällt einem sofort der Blauflossenthunfisch ein, der ist schwer bedroht und die Japaner sollen ihn am liebsten nicht mehr zu Sushi verarbeiten, wehren sich aber dagegen. Ist denn die ganze Diskussion um den Artenschutz nicht ohnehin verlogen, weil Arten nur dann geschützt werden, wenn ihr Schutz keine menschlichen Interessen verletzt, seien die nun kultureller oder wirtschaftlicher Natur?

Reichholf: Ja leider ist es so, das gilt nahezu generell: Es sollten die guten Arten – ich sag es jetzt bewusst noch etwas überspitzt: die braven Arten – bitte selten bleiben, niemanden behelligen und aufgrund ihrer Seltenheit immer ein gewisses Maß an Anlass zur Sorge geben, dann sind sie gute Arten. Wer es wagt insbesondere in der heutigen Zeit wieder zuzunehmen, der ist verdächtig.

Karkowsky: Sie haben die Diskussion in Nagoya ausführlich verfolgt und da wurde ja auch parallel eine Untersuchung der UN veröffentlicht, die die Schäden beziffert, die Menschen an der Natur verursachen. Da gab es Zahlen zwischen viereinhalb und sechseinhalb Billionen Dollar jährlich. Was halten Sie von Versuchen, über solche Zahlen den Wert des Artenschutzes zu bestimmen?

Reichholf: Eigentlich nicht viel, denn all diese pseudowirtschaftlichen Vergleiche sind darauf ausgerichtet, Ängste zu erzeugen oder wirtschaftliche Befürchtungen. Und Angst ist ein schlechter Führer, wenn es um zukunftsträchtige Konzepte geht. Wir müssten sehr viel mehr – wir, da meine ich jetzt wieder die Naturschützer – das Positive nach außen bringen, die Schönheit der Natur ganz allgemein, das Einzigartige der unterschiedlichen Arten als Wert für viele Menschen darstellen. Dann würde auch eher akzeptiert werden, dass eben Teile der Menschheit diese Werte erhalten möchten und infolgedessen eine Abwägung notwendig ist zwischen dem, was die anderen möchten, weil sie eine wirtschaftliche Wertsetzung anstreben, und diejenigen, die die Erhaltung betreiben, weil sie eine Wertsetzung für sich, für ihre Interessen darin sehen. Und das ist ein sicherlich schwieriger Prozess, aber etwas, was verstanden wird.

Ich möchte das an einem simplen Beispiel betonen: Wir haben doch längst akzeptiert, dass die fußballbegeisterte Bevölkerung große, teure Fußballstadien haben möchte. Wir haben das als Kulturerbe akzeptiert, dass wir Kirchen, Dome, kulturelle Bauwerke erhalten. Warum tun wir uns so schwer, wir gerade in Deutschland oder in weiten Bereichen Europas, das Naturerbe als gleichermaßen bedeutungsvoll einzustufen? Uns fehlt offensichtlich eine Haltung zu Tieren und Pflanzen, wie es in anderen Bereichen der Erde – ich nehme stellvertretend Indien heraus – seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden gegeben ist. Und deswegen schwingt bei uns in Europa eigentlich fast immer das schlechte Gewissen mit.

Karkowsky: Noch bis Freitag läuft in Japan die UN-Artenschutzkonferenz, Sie hörten dazu den Evolutionsbiologen Professor Josef H. Reichholf. Ihnen vielen Dank für das Gespräch!

Reichholf: Ich bedanke mich auch!