Reformationsjubiläum

Luther - verstanden, verwässert oder vereinnahmt?

Magneten mit dem Porträt Martin Luthers aus einem Cranach-Gemälde liegen am 25.09.2015 im Lutherhaus in Eisenach (Thüringen) auf einem Tisch.
Kirchen-Merchandise zum Reformationsjubiläum: Magneten mit dem Porträt Martin Luthers © dpa/picture-alliance/Sebastian Kahnert
Von Kirsten Dietrich · 14.05.2017
Wie nah, wie fremd soll der Reformator Martin Luther in diesem Jubiläumsjahr erscheinen? Sollte man seine unzeitgemäßen, problematischen Seiten betonen? Manche suchen dagegen den orientierungsgebenden Lehrer, den Bewahrer – vielleicht sogar: den Helden.
Wer versteht Luther richtig? Und wer ist Luther eigentlich, was ist das Wesentliche an ihm? Diese Debatte begann, ein bisschen salopp gesagt, kaum, dass der letzte Hammerschlag an der Wittenberger Schlosstür verklungen war – wenn denn Luther überhaupt mit einem öffentlichen Aushang seine Auseinandersetzung mit der katholischen Lehre begonnen hat. Schon die Zeitgenossen Luthers trennten in den jungen und den alten Reformator – und beschlossen meist, die hasserfüllten Ausfälle des alten gegen Juden, Papst und alle, die die Reformation nicht für sich annehmen wollten, geflissentlich zu ignorieren.
Jubiläumsfeierlichkeiten waren Kristallisationspunkte der Debatten um das richtige Lutherbild – da ist das 500. Jubiläum in diesem Jahr also keine Ausnahme. Allerdings ist ein Vorwurf dann doch sehr neu: dass Luther zu wenig im Mittelpunkt stehe.

Luther kommt "viel zu kurz"

"Mein Eindruck ist, dass Luther in den kirchlichen Aktivitäten des Reformationsjubiläums viel zu kurz kommt", sagt Benjamin Hasselhorn, als Kurator der nationalen Sonderausstellung der Stiftung Luthergedenkstätten in Wittenberg zur Zeit qua Amt hauptberuflich mit Luther beschäftigt.
"Selbstverständlich befasst man sich mit Luther, man befasst sich vor allem in öffentlichen Stellungnahmen mit den eher problematischen Aspekten von Luthers Erbe, aber das, was eigentlich den Kern von Luthers Glaubenserfahrung, den Kern seiner reformatorischen Erkenntnis ausmacht, der kommt mir ein bisschen zu kurz."
Mit dem Reformationsjubiläum will sich die evangelische Kirche allerdings ausdrücklich auch an die Gesellschaft richten, an die, die nicht im Sinne Luthers glauben. Deswegen wird auch die historische Figur Luther wichtig. Und deswegen werden auch deren Abgründe ausgeleuchtet. Denn dass es irgendwie problematisch war, wie sich Luther – der alte Luther, wie man gerne klarstellen kann – über Juden, Türken und den Papst geäußert hat, das hat sich mittlerweile auch und gerade zu denen herumgesprochen, die sich nicht mit Luthers Theologie befassen wollen.

Zu viel Kritik an Luther?

"Die Evangelische Kirche in Deutschland sieht sich verpflichtet, mit ihrer eigenen Geschichte ehrlich und kritisch umzugehen. An keinem anderen Punkt wird dies so deutlich wie im Blick auf Luthers feindselige Haltung gegenüber den Juden. Die Erinnerung daran erfüllt uns heute mit Trauer und Scham", heißt es in der Broschüre "Das Reformationsjubiläum 2017 feiern" von Anfang Mai. Das gefällt nicht jedem. Selbst wenn man, wie der Publizist Klaus-Rüdiger Mai, auch ein volkstümliches Erinnern an Luther prinzipiell richtig findet.
"Schwierig finde ich, dass man eine Luther-Dekade angesetzt hat, denn ich habe so den Eindruck, dass man sich da etwas übernommen hat, und wenn man etwas zu lange macht, wird man mäkelig, dann habe ich den Eindruck, dass sich Frau Käßmann immer stärker darin gefällt, die dunklen Seiten der Reformation zu zeigen, weil man daran so hübsch medial leiden kann, und ich finde es schändlich, wenn Herr Bedford-Strohm sich für Luther schämt, dann muss ich sagen: Was kümmert es den Mond, wenn der Mops ihn anbellt?"
Mai kritisiert nicht nur die Beauftragte der Evangelischen Kirche für das Reformationsjubiläum und den Ratsvorsitzenden der EKD: Die gesamte Amtskirche gefalle sich in einem, so nennt er das, Wohlfühlprotestantismus. Soll heißen: kirchliche Äußerungen seien eigentlich vor allem politische Stellungnahmen, es gehe um möglichst regierungskonforme Haltung, nicht um Theologie im Sinne Luthers. In ein ähnliches Horn stößt Uwe Siemon-Netto. Er lebt in Kalifornien, ist Journalist, Theologe und vor allem: Lutheraner.

"Unehrlichkeit und Feigheit"

Das Erbe des Reformators werde zurzeit sowieso eher im US-amerikanischen Luthertum bewahrt, findet er:
"Bei uns wird natürlich nicht über Gendermainstreaming gequasselt, bei uns wird gepredigt." - Siemon-Netto packt geradezu der Zorn, wenn er über das Lutherbild der evangelischen Kirche in Deutschland nachdenkt.
"Unehrlichkeit und Feigheit. Nicht ein einziges Mal würde ich rechtfertigen, was Luther zu den Juden gesagt hat, aber das ist nicht das, was den Großteil der 80.000 Seiten im Gesamtwerk, in der Weimarer Ausgabe ausmacht."
Uwe Siemon-Netto möchte weg vom Bild des obrigkeitshörigen Luther, der sich für seine theologische Idee zum Diener der Fürsten gemacht habe.
"Mein Luther ist eine überdimensionale Gestalt. Sie war es im Guten, sie war es leider auch im Schlechten, er ist aber der Mann, der uns freigesetzt hat."
Auf Siemon-Nettos jüngstem Buch ist – natürlich – Luther im bekannten Cranach-Porträt zu sehen. Grafisch allerdings ist dieser Luther angelehnt an den flächigen Stil der Poster in Dunkelblaurot-grau, mit denen Ex-Präsident Obama oder der Whistleblower Edward Snowden als progressive Ikonen gefeiert wurden. Titel des Buchs: Luther – Lehrmeister des Widerstands:
"Luthers Kirche steht an einem Scheideweg: Sie kann weiter die beiden Reiche ‚ineinanderkochen‘, kann sich in einem törichten Versuch, ihren Mitgliederschwund aufzuhalten, dem Geist der Zeit prostituieren und sich damit eines neuen Ablasshandels schuldig machen." (Uwe Siemon-Netto: "Luther – Lehrmeister des Widerstands")
Uwe Siemon-Netto: "Sie werden in meinem Buch eine Kritik finden an diesem Pazifismus, der in der evangelischen Kirche in Deutschland herrscht. Das ist entsetzlich. Als ob Luther nicht die wunderbare Schrift ‚Dass Kriegsleute auch vom seligen Stand sein könnten‘ geschrieben hätte."

Luther sei Aufklärung, sei Menschenrecht

Er sei konservativ, aber kein Rechter, betont Uwe Siemon-Netto. Sein Buch ist die Neuauflage der Dissertation von 1993 und arbeitet sich an dem Vorwurf ab, von Luther führe ein direkter Weg zu Hitler – ein Vorwurf, der heute als überholt gilt, wie eine aktuelle Ausstellung im Berliner Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" zeigt.
Doch mit Luther wird auch heute Politik gemacht. Von Klaus-Rüdiger Mai zum Beispiel in seinem Essay "Gehört Luther zu Deutschland".
"Die Frage ist: Wo sind unsere Werte? Die Frage ist: Wie stellen wir uns eigentlich Deutschland vor? Das ist das, was zu diskutieren ist in einem offenen, demokratischen Prozess."
Luther ist Aufklärung, ist Menschenrecht, ist echte Bildung, ist das wahre Europa im Gegensatz zum drohenden Brüsseler Zentralstaat, ist Zukunft für deutsche Steuerzahler – Mai eröffnet eine riesige Argumentationsmühle, in der 500 Jahre Zeitabstand einfach verschwinden und Luther zum Garanten eines Staates wird, in dem Herausforderungen wie globale Ungleichheit und Migrationsdruck an den Grenzen des christlichen Abendlandes abgewiesen werden können.
"Europa wird christlich sein oder es wird nicht sein. Das ist auch Luthers Vorstellung. Und das hat etwas damit zu tun, dass unsere Kultur und der Sonderweg, den Europa genommen hat, nämlich diesen ungeheuren Aufschwung an Wirtschaft, an Technik, an Wissenschaft, an Zivilisation, dieser ungeheure Aufschwung, den verdankt es auch zu einem großen Teil dem Christentum."
Auch wenn Mai Luther als quasi neutralen Gründungsvater des modernen Europa postuliert, ihn als – Zitat – "großen Gesellschaftsphilosophen, Ethiker und Wirtschaftswissenschaftler" bezeichnet: Bei konkreten Themen wie Integration von Flüchtlingen oder Stellung des Islams nimmt Mai Luther gern für eine klare Position in Anspruch.
"Insofern ist die Frage, ob Luther zu Deutschland gehört und nicht stattdessen der Islam, aktuell, akut und wichtig. Es ist letztlich die Frage nach der gesellschaftlichen Situation, die Frage, ob unsere Kultur, die Kultur der Aufklärung, zerbröselt." (Essay von Klaus-Rüdiger Mai)

Reformation leichtgemacht

Erschienen ist der Essay im renommierten Herder-Verlag – und balanciert haarscharf auf der Grenze zwischen Wertedebatte und Polemik gegen Integration. Aus dem Erbe Luthers heraus gesellschaftspolitische Grundsatzfragen stellen – davon ist die theologische Kritik am amtskirchlichen Lutherbild weit entfernt. Sie will ganz im Gegenteil gerade den Blick der Kirchen von der Politik zur Theologie wenden. Dort gebe es Nachholbedarf.
"Luther für Eilige", "Plaudereien mit Luther", "Wenn Engel lachen", "Luthers Küchengeheimnisse" - Typische Titel im kircheneigenen Chrismon-Verlag. Reformation leichtgemacht – zu leicht, sagt Benjamin Hasselhorn, der evangelischer Theologe und Historiker ist. Er vermisst den ursprünglichen, den lutherischen Luther. Den mit Anspruch.
"Die Kernbotschaft, die ich dann immer wieder vernehme, ist: Es ist alles ok. Gott liebt dich so, wie du bist. Und das hätte Luther niemals unterschrieben."
Zu nett findet Benjamin Hasselhorn den Luther des Reformationsjubiläums. Seiner Entgegnung an diese Kirche, die eine zu billige Gnade predige, hat er eine Frage als Titel gegeben: "Das Ende des Luthertums?"

500 Jahre trennen uns von Luther

"Das Gottvertrauen, das Luther aus der Erkenntnis gewonnen hatte, dass Gott kein strenger Richter ist, sondern ein liebender Vater, wurde verändert zu einer Verharmlosung Gottes als eines liebenden Großvaters. Damit hatte man zum fundamentalen Problem des Menschseins – der Erfahrung der eigenen Sündhaftigkeit – nichts Relevantes mehr beizutragen." (Benjamin Hasselhorn: "Das Ende des Luthertums?")
Benjamin Hasselhorn: "Ich nehme eher Konfirmandengruppen wahr, die mit einem überbordenden Selbstbewusstsein ausgestattet sind. Und wenn Sie denen dann von der Kanzel auch noch erzählen: Es ist alles okay. Du bist nicht nur gut und du bist nicht nur was ganz besonderes, sondern du bist auch noch von Gott geliebt, dann stärken Sie ein Selbstbewusstsein, das aus meiner Sicht trügerisch ist. Und was der lutherische Glaube jungen Menschen mitgeben könnte, wäre eine Irritation ihres Selbstbewusstseins."
Zu viel Tagespolitik, zu wenig Rechtfertigung und Zwei-Reiche-Lehre: Solche Debatten gehören zur lutherischen Theologie von Anfang an dazu. Schlimm ist das nicht.
Gefährlich ist eher zu große Nähe: Wer vergisst, dass uns von diesem Reformator satte 500 Jahre trennen, eine ganze Epoche, der zieht schnell zu kurze Schlüsse. Ein Lutherbild, das dem Reformator gerecht wird und das zugleich zu einer postmodernen, religiös und kulturell vielfältigen Gesellschaft passt, zeichnet man so eher nicht.

Buchhinweise:

Benjamin Hasselhorn: "Das Ende des Luthertums?"
Evangelische Verlagsanstalt, 2017
Klaus-Rüdiger Mai: "Gehört Luther zu Deutschland?"
Herder-Verlag, 2016
Uwe Siemon-Netto: "Luther – Lehrmeister des Widerstands"
Fontis, 2016
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