Reform des Judentums

Forscher Umgang mit der Tradition

Studenten der Freien Universität Berlin betrachten am Freitag (22.06.2012) in der Alten Synagoge Erfurt das Faksimile einer Thorarolle aus dem 13. Jahrhundert. Unter Leitung von Annett Martini (M) erforschen sie die mittelalterlichen hebräischen Handschriften der früheren jüdischen Gemeinde Erfurt. Die Schriftensammlung war bis zu einem Pogrom 1349 im Besitz der jüdischen Gemeinde. Die Alte Synagoge ist nach ihrem Wiederaufbau seit 2009 Museum.
Faksimile einer Thorarolle aus dem 13. Jahrhundert © picture alliance / dpa / Foto: Michael Reichel
Von Heinz-Peter Katlewski · 13.12.2013
Über Jahrhunderte studierten jüdische Geistliche die Thora und versanken in den heiligen Schriften. Erst im Zuge der jüdischen Aufklärung begannen Intellektuelle, ihr Judentum wissenschaftlich zu erforschen, und in Breslau entstand die erste wissenschaftlich orientierte Hochschule zu dem Thema.
Vor mehr als 175 Jahren erhob Abraham Geiger, ein Orientalist und bedeutender Reform-Rabbiner seiner Zeit, die Forderung, Rabbiner ähnlich christlichen Pfarrern und Pastoren an einer eigenen theologischen Fakultät auszubilden. In diesem Jahr war es soweit, weiß Rabbiner Walter Homolka zu berichten, Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam:
"Die Forderung von Abraham Geiger, 1836, eine jüdische theologische Fakultät einzurichten, beruhte auf seiner Einsicht, dass erst dann die jüdische Emanzipation vollkommen sei, wenn auch die Ausbildung für das geistliche Amt adäquat und ähnlich der christlichen Theologie stattfinden könne."
Im 19. Jahrhundert stieß diese Idee weder beim preußischen Staat noch in der Wissenschaft auf Gegenliebe. Juden konnten mittlerweile zwar studieren und Doktorarbeiten schreiben, aber Professorenstellen waren ihnen versagt. Der Historiker und Rabbiner Leopold Zunz zum Beispiel strebte einen Lehrstuhl für jüdische Geschichte an einer Philosophischen Fakultät an.
Er gilt als der erste, der Geschichte und Philosophie des Judentums wissenschaftlich zu erforschen suchte. Zunz gründete dafür bereits 1819 einen Verein für „Cultur und Wissenschaft der Juden“. Dazu Christian Wiese, Professor für jüdische Religionsphilosophie an der Universität Frankfurt:
"Dieser Verein für die Kultur und Wissenschaft des Judentums war im Grunde genommen eine Gruppierung von Intellektuellen, die eigentlich dem Judentum schon etwas entfremdet haben. Und was deren Hauptanliegen war, war tatsächlich die Integration in die europäische Kultur, d.h. der Versuch, deutlich zu machen den europäischen Intellektuellen, dass das Judentum zur europäischen Kultur dazugehört und sich nicht einfach zu einer Theologie herabwürdigen lässt."
Dieser Verein löste sich allerdings nach fünf Jahren wieder auf. Doch die „Wissenschaft des Judentums“ wurde zum Arbeitsbegriff – sowohl für jene, die sich eher philosophisch und sprachwissenschaftlich orientierten als auch für die, die die wissenschaftliche Ausbildung ihrer Rabbiner auf Augenhöhe mit der christlichen Theologie im Visier hatten. Bis dahin wurden DIE ausschließlich an sog. Talmudhochschulen ausgebildet.
Aufbruch in Breslau
Doch unter dem Einfluss der jüdischen Aufklärung begannen bereits Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr jüdische Gelehrte, ihr Judentum wissenschaftlich und systematisch zu betrachten. Unter ihnen verbreitet sich die Auffassung, dass das bloße Vertiefen in Thora, biblische Schriften und Talmud den Anforderungen der Moderne nicht gerecht wird. Da die Wissenschaft des Judentums an den Universitäten noch nicht willkommen war, gründeten einige von ihnen 1854 eine erste wissenschaftlich orientierte Hochschule: das Jüdisch-theologische Seminar in Breslau.
"Leopold Zunz hat die Wissenschaft des Judentums als große Wissenschaft entworfen: als Geschichte, Philosophie, ja, als ein großes Fach der Textgeschichte der Juden und des Judentums. Institutionalisiert wurde die Wissenschaft des Judentums allerdings als religiöse Wissenschaft, von Religiösen, von Rabbinern. Und da ist natürlich klar, bei einer Institutionalisierung wie zum Beispiel in Breslau, was ja das erste Seminar war, das allen Standards genügen wollt, da ist die Leitlinie gewesen, man bildet Rabbiner aus, historisch kritisch."
Mirjam Thulin, Religionshistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau wurde zum Zentrum einer Bewegung, die sich – in Abgrenzung vom liberalen Reformjudentum aber auch zur sogenannten Neo-Orthodoxie als konservativ oder positiv-historisch verstand. Der führende Theoretiker dieser Position zwischen den Strömungen war der erste Religionsphilosoph und Rabbiner Zacharias Frankel. Mirjam Thulin:
"Von Zacharias Frankel aus dem 19. Jahrhundert, dem quasi Gründer des positiv-historischen Judentums, da gibt es in den Protokollen zu den Rabbinerversammlungen einige Hinweise, wie er positiv-historisch – so hat er’s ja immer genannt – das Judentum formuliert. Positiv historisch heißt, die Tradition positiv auch annehmen."
Für das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, bedeutete das, sie nicht einfach für überholt zu erklären wie es zuweilen im Reformjudentum geschah, sondern sie zu leben und allenfalls nach einer gründlichen Diskussion abzuändern. Das Jüdisch-theologische Seminar in Breslau wurde so zum Vorbild für ähnliche Einrichtungen, auch solche des Reformjudentums in der Nachfolge Abraham Geigers.
Chor und Gesang in der Synagoge
Die Reformbewegung ist oft forscher mit der Tradition umgegangen. Sie hat den Gottesdienst nicht nur gestrafft, sondern ästhetisch durch Chor und Orgelbegleitung an die Umwelt angepasst, wie in diesem, 1929 in Berlin aufgenommenen Eingangspsalm „MaTowu“ zu hören ist.
Die jüdische Tradition hat die Begleitung des gemeinsamen Gebets durch Musikinstrumente aus Trauer um den verlorenen Tempel eigentlich ausdrücklich untersagt. Aber die Reformer hatten einleuchtende Motive für ihre Modernisierungen, weiß Professor Christian Wiese:
"Die Reformbewegung hat die Wissenschaft des Judentums in mehrfachem Sinne aufgegriffen, einmal um tatsächlich auch diese historische Forschung durchzuführen, nämlich Verteidigung gegen Antisemitismus und der Kampf gegen die Indifferenz in den eigenen Reihen, also den Stolz auf das Judentum zu stärken, um Assimilation abzumildern."
Das Breslauer Seminar sowie zwei weitere, ähnliche Einrichtungen wurden durch die Nazis geschlossen. Erst 1979 wurde vom Zentralrat der Juden in Deutschland in Heidelberg wieder eine Hochschule für Jüdische Studien ins Leben gerufen. Die konnte sich aber lange nicht dazu durchringen, ein Studium für das Rabbinat einzuführen. Erst 2001 hat das reformjüdische Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin diese Idee aufgegriffen. Das Kolleg hat dabei vom Studiengang „Jüdische Studien und Religionswissenschaft“ der Universität Potsdam profitiert.
Kürzlich hat sich mit dem Zacharias-Frankel-College ein weiteres Rabbinerseminar in Potsdam etabliert. Es vertritt die positiv-historische Strömung: das konservative oder Masorti-Judentum. Seit diesem Semester studieren die künftigen Rabbiner und Kantoren dieser beiden jüdischen Richtungen in Potsdam an einem regulären Universitätsinstitut mit sieben Lehrstühlen: der School of Jewish Theology. Dazu Rabbiner Walter Homolka, Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs:
"Bisher waren wir ja sozusagen Gast an der Universität und haben selbst dafür sorgen müssen, dass bestimmte Lücken durch uns selbst gefüllt wurden. Jetzt ist es so, dass wir klar trennen können zwischen der theoretischen Ausbildung im Rahmen des Studiengangs, aber vor allem können wir uns jetzt auf die spezifische Vorbereitung, die für die Ordination erforderlich ist, konzentrieren."