Reflexionen

Zwischen Glück und Elend

Von Wolfgang Schneider · 12.02.2014
Auf eine kurze und heftige Liaison zu Schulzeiten folgt ein schmerzhaftes Verlassenwerden - das ist Leidvollste, was der Autor Navid Kermani jemals in Liebesdingen erfuhr. Das nimmt er zum Anlass, um über die Liebe nachzudenken. Herausgekommen ist ein interessantes Bändchen. Wirklich überzeugen kann es aber nicht.
Der fünfzehnjährige Navid Kermani muss mit seiner Jimi-Hendrix-Frisur und seiner John-Lennon-Brille ein Blickfang für Mädchen gewesen sein. Und es gelang ihm eine Eroberung, die nun in einem Roman in hundert kurzen Kapiteln abgehandelt wird: Die „Schönste des Schulhofs“, eine vier Jahre ältere Abiturientin, gewährte ihm Zugang auf ihr WG-Matratzenlager, wo die beiden dem Liebesspiel mehr oder weniger geschickt, auf jeden Fall aber so lautstark frönten, dass es noch in der friedensbewegten Küche der Wohngemeinschaft wie ferne Einschläge zu hören war. Respekt!
Kermani geht es aber nicht darum, mit seinem Schulhoftriumph zu renommieren, dem nach kurzem Glück auch schon ein furchtbarer Verlassenheitsschmerz folgte. Die autobiographische Erinnerungsübung ist vielmehr erzählerisches Fundament einer Reflexion über Liebesglück und Liebeselend im Allgemeinen. Dafür eignet sich diese ebenso kühne wie asymmetrische und auf längere Sicht (das heißt: mehr als eine Woche) völlig aussichtslose Schulhofpassion, weil sie das Heftigste, Leidvollste, Wahnhafteste gewesen sei, was der Erzähler in Liebesdingen je erlebt habe.
Der Autor geht auf Abstand zu sich selbst
Allerdings vertraut Kermani nicht auf die Liebesgeschichte voller Qual und Peinlichkeit. Nur unter vielen Absicherungen kommt die Erzählung überhaupt in Gang, immer wieder geht der Autor auf Distanz zu dem „Autodidakten von einem Casanova“, der er selbst einmal war, und fügt gewundene Abstandsmarkierungen ein: „Das Tagebuch des Jungen mag nicht zu meinen Lieblingslektüren gehören, aber um die zeitliche Abfolge zu rekonstruieren, hilft es doch.“
Von dem Mädchen erfahren wir kaum mehr, als dass es eine reizvolle Zahnlücke hat; bis zum Überdruss wird wiederholt, dass sie „die Schönste des Schulhofs“ sei. Anstatt die Liebe mit mehr Details zu beglaubigen, stellt Kermani sie in Kontexte, die seiner Geschichte Relevanz sichern sollen. Zum einen als Milieustudie einer kuriosen Epoche: der Zeit der Friedensbewegung Anfang der Achtziger. Die schöne Jutta lebt in einer verschlufften Drogen-WG hinter dem Bahnhof – augenzwinkernd wird linksalternatives Zeitkolorit aufgetragen, Frauen in Latzhosen, strickende Jungmänner, Gesundheitslatschen mit „ausgewuchtetem Fußbett“, ständig diese merkwürdige Lockerheit, ständig dieser pauschale Faschismusverdacht.
Die banale Schülerliebsgeschichte wird überstrapaziert
Tausendmal wurde dieses Milieu schon durch den Kakao gezogen; Kermanis Darstellung bringt keine neuen Pointen oder Einsichten. Es geht vor allem um eine Kontrastwirkung: Hier das kollektive Weltverbesserungspathos, dort das Pathos wahnhafter, ausschließlicher Liebe, beides völlig ironiefrei.
Zum anderen wird in Einschüben, die etwa ein Drittel des Buches ausmachen, ein hoher geistesgeschichtlicher Kontext bemüht: die islamisch-orientalische Mystik und Philosophie der Liebe. So interessant die Aphorismen der Leidenschaft und die Legenden des Liebeswahns im Einzelnen sind – damit wird die doch etwas banale Schülerliebesgeschichte überstrapaziert; diese Verweise sind einfach zu voluminös.
Wie wäre es, eine Pubertätspassion durch ständige Rückversicherungen auf den Liebesdiskurs bei Walther von der Vogelweide, „Romeo und Julia“ oder dem Hohelied Salomos aufzuschmücken? Das bedeutungsheischende Abschweifen von der Hauptgeschichte verärgert nach einer Weile. „Große Liebe“ ist ein intelligentes, raffiniert gemachtes, aber kein überzeugendes Buch.

Navid Kermani: Große Liebe
Hanser Verlag, München 2014
224 Seiten, 18,90 Euro