Reflexionen über das Altern

05.04.2010
Im letzten Sommer wurde in einem für die Öffentlichkeit gesperrten Teil des Max Frisch-Archivs in Zürich ein elektrisierender Fund gemacht. Frisch, dessen Tagebücher von 1946 bis 1951 sowie von 1966 bis 1970 berühmt geworden sind, hatte im Jahr 1982 begonnen, ein drittes Tagebuch zu schreiben. Die insgesamt 184 Blätter zeigen, dass das Projekt schon relativ weit gediehen war.
Wieder ist der charakteristische Tagebuch-Ton von Frisch zu finden, der nichts mit einer privaten Niederschrift und nichts mit persönlich-intimen Aufzeichnungen zu tun hat – es sind sorgsam konzipierte literarische Texte, die sehr knapp, oft geradezu aphoristisch politisches und ästhetisches Räsonnement mit subjektiven Erlebnissen und Wahrnehmungen verbinden. Diese dritte, sehr bewusst gewählte, Tagebuch-Phase registriert die Probleme des Alterns, des Lebensrückblicks.

Es gibt einige Leitmotive. Im Vordergrund steht die Liaison mit Alice Locke-Carey, die 32 Jahre jünger ist als der damals 71-jährige Frisch. Sie ist das Modell für die "Lynn" genannte Person in Frischs autobiografischer Erzählung "Montauk". Von Mai 1980 bis Frühjahr 1983 lebten die beiden als Paar zusammen, abwechselnd in New York und in Berzona im Tessin. Die Tagebuchblätter, die ursprünglich die Widmung "Für Alice" tragen sollten, enden ungefähr zeitgleich mit dieser Beziehung. Das heißt, dass die Verbindung mit der sehr viel jüngeren Frau in vielerlei Hinsicht die notwendige Grundlage für die Reflektionen Frischs über das Alter bildete.

Alice erscheint in diesen hochartifiziell gestalteten Prosastücken als typische, von europäischen Zweifeln nicht angekränkelte Amerikanerin, die ab und zu auf Psycho-Workshop-Wochenenden geht und in dicken unterhaltsamen Taschenbüchern liest. Zwei, drei Mal bietet sie den Anlass für präzis austarierte Glücksmomente, die nichts Kitschiges oder Peinliches haben – Frisch ist in seiner hochkontrollierten, aber durchaus melancholisch getönten Tagebuch-Selbstvergewisserung ein Gegenpol etwa zu Martin Walser.

Die Alice-Skizzen sind collagiert mit Beschreibungen des Freundes Peter Noll, der in dieser Zeit an Krebs stirbt und Ausgangspunkt für diverse Betrachtungen über Zerfall und Verwesung wird. Und hineinkomponiert sind politische Überlegungen, die das Motiv des Todes ins Gesellschaftliche übertragen: es ist die Zeit der atomaren Hochrüstung, für die der neugewählte US-Präsident Ronald Reagan steht. Die Angst vor dem Krieg, der vor allem das alte Europa betreffen würde, ist ein beherrschendes Thema – und das führt zu kritischen Analysen des US-amerikanischen Kapitalismus und des "falschen Bewusstseins" selbst der intellektuellen US-Bürger: "Es gibt in Amerika alles – nur eins nicht: ein Verhältnis zum Tragischen."

Besprochen von Helmut Böttiger

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch
Hg. und mit einem Nachwort von Peter von Matt
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
213 Seiten, 17,80 Euro