Referendum in Großbritannien

Rationale Argumente für einen Brexit

Boris Johnson auf der "Vote Leave" Tour am 26.05.2016 in London. Im Zuge eines Spazierganges in Winchester und Hampshire trifft er zudem auf Befürworter der Kampagne zum Referendum am 23. Juni 2016.
Boris Johnson auf der "Vote Leave" Tour am 26.05.2016 in London. © imago / i Images
Susanne Führer im Gespräch mit Hans Kundnani · 11.06.2016
Knapp zwei Wochen vor dem Referendum in Großbritannien über den Verbleib in der EU ist dessen Ausgang völlig offen. In vielen Umfragen liegen die Brexit-Befürworter knapp vorn. Der britische Politologe Hans Kundnani erläutert die Argumente der Brexit-Anhänger.
Deutschlandradio Kultur: In zwölf Tagen können die Briten darüber abstimmen, ob sie weiterhin Mitglied in der EU bleiben oder austreten wollen. Das ist das erste Referendum dieser Art in der Geschichte der Europäischen Union. Was ist mit den Briten los? Das wird uns Hans Kundnani erklären, hoffentlich. Er ist zurzeit Senior Fellow am German Marshall Fund in Berlin. Er ist also Wissenschaftler. Er war mal Journalist. Und er ist britischer Staatsbürger. Guten Tag, Herr Kundnani. Schön, dass Sie da sind.
Hans Kundnani: Guten Tag, danke für die Einladung.
Deutschlandradio Kultur: Sie leben zurzeit noch in Deutschland und haben per Briefwahl am Referendum teilgenommen. Das weiß ich schon. Darf ich Sie auch fragen, wie Sie abstimmen.
Hans Kundnani: Ja, gerne. Ich habe für einen Verbleib gestimmt.
Deutschlandradio Kultur: Warum?
Hans Kundnani: Das ist eigentlich eine gute Frage. Vielleicht letztendlich, weil ich glaube, dass es ein zu großes Risiko ist für Großbritannien. Ich glaube schon, dass es Argumente gibt, warum es besser sein könnte auszutreten. Insofern bin ich nicht ganz davon überzeugt, dass die Zukunft Großbritanniens besser ist in der EU, aber letztendlich ist es schon ein Sprung ins Ungewisse, sozusagen auszutreten. Die Risiken sind sehr groß. Und ich glaube letztendlich an das europäische Projekt und ich glaube, es ist schon besser, wenn wir erstmal in der EU bleiben.
Deutschlandradio Kultur: Also doch jetzt nicht nur intellektuelle, sondern auch ein paar – wie soll man sagen – emotionale Gründe, wenn Sie sagen, Sie glauben an das europäische Projekt.
Wahlberechtigt sind natürlich die britischen Staatsbürger, aber auch die Bürger von Commonwealth-Staaten, die dauerhaft in Großbritannien leben, also zum Beispiel Inder oder Australier, aber nicht EU-Bürger, also zum Beispiel Deutsche oder Polen, die dauerhaft in Großbritannien leben. Das finde ich eine sehr erstaunliche Regelung.
Hans Kundnani: Das ist interessant und das bringt uns auch sofort zu der Geschichte Großbritanniens, diesen Sonderstatus innerhalb Europas, den Großbritannien sein langem gehabt hat. Das geht viel weiter zurück in die Geschichte. Es fängt nicht an mit der Europäischen Union, sondern es hat mit der Vorgeschichte zu tun.
Ich kann das an meiner eigenen Person erzählen. Meine Mutter kommt aus Holland und mein Vater aus Indien.

"Wollen mehr Einwanderer aus Indien und weniger aus Europa"

Deutschlandradio Kultur: Also, der Hans von der Mutter und Kundnani vom Vater?
Hans Kundnani: Ganz genau. Ich bin 72 geboren. Und in den 70ern damals hatte mein Vater als indischer Staatsbürger viel mehr Rechte als meine Mutter als holländische Staatsbürgerin. Mein Vater konnte zum Beispiel bei jeder Wahl wählen und meine Mutter eben nicht. Das hat eben mit diesen Beziehungen zu den Staaten zu tun, die im britischen Empire waren. Bis in die 70er hatte man automatisch das Recht, die britische Staatsbürgerschaft zu bekommen, wenn man aus einem Commonwealth-Staat kam.
Deutschlandradio Kultur: Solche Traditionen, auch wenn die Gesetze sich geändert haben, wirken ja doch weiter. Weil wir gerade über intellektuelle und emotionale Gründe gesprochen haben, finde ich, spricht so ein bisschen aus dieser Regelung, wer wahlberechtigt ist und wer nicht, auch so eine größere einfach Verbundenheit der Briten nach wie vor mit Indien als mit den Niederlanden.
Hans Kundnani: Genau. Ich meine, das kommt auch vor in der Debatte. Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Einwanderung, die jetzt wirklich fast eine entscheidende Rolle spielt in dem Referendum. Es gibt Leute, die sagen, wir wollen mehr Einwanderer aus Indien und weniger aus Europa. Das heißt, die sind nicht unbedingt gegen Einwanderung an sich, sondern das geht schon um diese Identität Großbritanniens, inwiefern wir zu Europa gehören, kulturell usw., und inwiefern wir eine andere Identität haben, die zurückgeht auf die Geschichte Großbritanniens.
Wenn man den durchschnittlichen britischen Staatsbürger fragen würde, wem sind wir ähnlicher, den Europäern, das heißt, Bürgern aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, oder Australiern, ich gehe davon aus, dass auf jeden viele sagen würden: natürlich die Australier. Da ist auch ein interessanter Unterschied, was auch wichtig ist, glaube ich.
Deutschlandradio Kultur: Weil die Europäer wie die Franzosen Froschschenkel essen und die Australier zumindest Kricket spielen, oder?
Hans Kundnani: Das könnte man so überspitzt sagen. Aber das Interessante, wenn man wirklich gucken würde, wer sagt, ich fühle mich eher den Europäern ähnlicher, und wer sagt, ich fühle mich den Australiern ähnlicher, da würde man, behaupte ich, sehen, dass es auch so einen Klassenunterschied gibt. Also dass die eher gebildeten Leute sich schon eher europäisch fühlen, aber die normalen Briten fühlen sich ähnlich wie die anderen anglo-sprachigen Länder. Das ist auch wichtig, weil, es stärkt diese Wahrnehmung, die Europäische Union ist ein Elitenprojekt.
Deutschlandradio Kultur: Ich finde interessant, was Sie sagen, weil ich natürlich auch hier in Deutschland gehört und gelesen habe, dass die Frage der Zuwanderung einer der Hauptstreitpunkte ist in dieser ganzen Brexit-Debatte. Das muss man nochmal klar sagen: In Deutschland diskutiert man über Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Und um die geht es ja gar nicht. Es geht um EU-Bürger, viele aus Osteuropa, die seit 2004, dieser sogenannten Osterweiterung der EU, nach Großbritannien gekommen sind. Ich habe verschiedene Zahlen gefunden. Es scheint sich rund um zwei Millionen zu bewegen, von denen aber alle sagen, die sind exzellent integriert. Die zahlen mehr Steuern und Abgaben als der Durchschnitts-Brite. Also, es gibt eigentlich gar keine Probleme mit ihnen. Und da denkt man natürlich: Aha, wenn die das Problem sind, dann sind die Briten also insgesamt einfach fremdenfeindlich. – Aber, das haben Sie ja gerade erläutert, das ist es nicht.
Warum ist es dann so ein großes Thema, wenn die Zuwanderer gar kein Problem machen?
Hans Kundnani: Das Wichtigste, wenn man der britischen Debatte zuhört, ich meine, es stimmt natürlich, es gibt fremdenfeindliche Untertöne manchmal in der Debatte. Das will ich nicht infrage stellen. Aber die meisten Euro-Skeptiker sagen: Wir sind nicht gegen Einwanderung. Wir sind gegen unkontrollierte Einwanderung. Deswegen spielt die Einwanderung aus der EU so eine wichtige Rolle in der Debatte, weil es eben unkontrolliert ist.
Deutschlandradio Kultur: Wegen der Freizügigkeit.
Hans Kundnani: Wegen Freizügigkeit, genau.
Deutschlandradio Kultur: Und wenn man sie tatsächlich als Fremde wahrnimmt, nicht als Europäer, die in ein anderes europäisches Land gehen. Sondern da kommen die Polen, die sind anders.
Hans Kundnani: Genau. Das meinte ich mit dem anderen Punkt über diese Wahrnehmung kultureller Unterschiede. Aber hauptsächlich sagen die Euro-Skeptiker: Wir sind nicht gegen Einwanderung an sich. Wir wollten nur als Nationalstaat entscheiden können, so jährlich, wie viele Einwanderer aus welchen Ländern nach Großbritannien kommen. Und das können wir machen mit Indern oder mit Amerikanern oder was auch immer. Die einzige Ausnahme ist, dass jeder Bürger aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat das Recht hat, nach Großbritannien zu ziehen. Und was dann dazu noch kommt, ist, man guckt, was gerade auf dem europäischen Festland passiert mit der Eurokrise, mit der Flüchtlingskrise…

Euroskeptiker stört die Einwanderung aus Osteuropa

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns noch bei dem ersten Punkt bleiben, Herr Kundnani. Wenn wir nochmal über die vielen Zuwanderer aus den osteuropäischen Staaten sprechen, viel ist ja relativ, Großbritannien hat um die 64 Millionen Einwohner und ein bis zwei Millionen sind gekommen, dann wirkt das ja doch auch ein bisschen widersinnig vor dem Hintergrund, dass Großbritannien ja eine der treibenden Kräfte war, um diese osteuropäischen Staaten aufzunehmen in die EU 2004. Mit eben diesem Kalkül, je mehr Staaten es sind, desto weniger Einigkeit und Gemeinsamkeit gibt es, desto mehr bleibt es eben dann eine Wirtschaftsgemeinschaft und keine wirkliche politische Union.
Das jetzt nun wiederum als Grund zu nennen, nun, es sind wahrscheinlich nicht dieselben Briten, die das eine und das andere kritisieren.
Hans Kundnani: Ja. Was wir gerade erleben so im Allgemeinen in Großbritannien und nicht nur in Großbritannien, wenn ich sagen darf, ist so ein gewisser Backlash gegen die Politik der letzten zehn, zwanzig Jahre. In Großbritannien ist es ein Backlash gegen eine bestimmte Politik, die auf jeden Fall seit Blair durchgesetzt wurde. Und ein Teil davon war eben diese sehr offene Haltung zu Einwanderung aus Mittel- und Osteuropa.
Also, mein Eindruck ist, dass auch die meisten Euro-Skeptiker nichts gegen die Polen haben, die nach Großbritannien gezogen sind nach 2004. Wie Sie gesagt haben, also, sie haben einen Beitrag geleistet. Wirtschaftlich gesehen war das eher positiv für Großbritannien. Es geht nicht darum, sondern es geht darum, dass die Erwartungen, also, was Zahlen angeht, die Erwartungen, die die…
Deutschlandradio Kultur: Regierung geschürt hat, ja, war nicht eingehalten worden.
Hans Kundnani: ... völlig falsch.
Deutschlandradio Kultur: Cameron hat gesagt, er setzt es auf 100.000 pro Jahr runter, Zuwanderung. Und es waren jetzt wieder über 300.000.
Hans Kundnani: Also, man hat daraus eine Lehre gezogen. Erstens, wir können der Regierung nicht vertrauen oder die können selber nicht einschätzen, wie viele nach Großbritannien kommen. Auch wenn das mit den Polen in der Vergangenheit kein Problem war, es könnte in der Zukunft mit anderen Ländern doch ein Problem sein. Das ist ein bisschen etwas anderes, als einfach zu sagen, die ganzen Polen, das war ein Fehler. Darum geht es nicht.

Deutschlandradio Kultur: Es ist ja überhaupt interessant, dass die offenbar alten politischen oder die üblichen politischen Schemata, die wir so haben, da wenig greifen, wenn man jetzt so guckt: Wer ist denn für einen Austritt aus der EU und wer ist für einen Verbleib in der EU? – Also, rechts, links scheint es nicht zu greifen, anhand von Parteien nicht. Also, David Cameron, der Premierminister von den Tories, ist für einen Verbleib. Aber in seiner eigenen Regierung sind Minister, die sind für einen Austritt. Also, das möge man sich in Deutschland mal vorstellen – unvorstellbar: Angela Merkel in einem Kabinett, wo Minister sind, die gegen die EU sind. Und auch die Labour-Partei, die eigentlich für die EU ist, da sind auch Prominente, die für einen Austritt sind.
18.02.2015, Berlin, Deutschland - Foto: Hans Kundnani, Wissenschaftler und Autor des Buches, The Paradox of German Power, über Deutschlands Rolle in Europa. Hans Kundnani vergleicht in seinem neuen Buch The Paradox of German Power Merkels Deutschland mit dem unter Bismarck.
Hans Kundnani, Wissenschaftler und Autor. © imago / Reiner Zensen
Gibt es Linien, kann man sagen, anhand derer sich das sortiert, die beiden Lager?
Hans Kundnani: Also, erstens müsste man sagen, das war immer so. Zum Beispiel in dem ersten Referendum 1975 war es genauso, dass sowohl die Konservativen als auch die Labour-Partei im Grunde genommen gespalten war. Und damals waren die Unterstützer von einem Austritt so eine komische Mischung aus linken und rechten Figuren – Enoch Powell und Tony Benn...
Deutschlandradio Kultur: Und das kann man diesmal auch sagen?
Hans Kundnani: Ja, eigentlich schon.
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht ohne komisch, aber auf jedenfalls linke und rechte Figuren sind für einen Austritt, von Nigel Farage...
Hans Kundnani: … bis zu extremen Linken, die auch im Grunde genommen die Europäische Union als neoliberales Projekt sehen.

Eine liberal-antiliberale Spaltung

Deutschlandradio Kultur: Aber dann haben die verschiedene Gründe, die Rechten und die Linken. Sie kommen nur zum selben Ergebnis.
Hans Kundnani: Ja, obwohl ich glaube, es gibt auch Gemeinsamkeiten. Da komme ich zurück auf diesen Punkt, diesen Backlash. Also, es gibt eine Links-, Rechtsspaltung in der britischen Politik, wie überall. Aber aus meiner Sicht gibt’s auch so eine liberal-antiliberale Spaltung. Und das sieht man, glaube ich, auch in dieser Debatte über Europa. Die Leute, die für Europa sind, sind im Grunde genommen liberal, das heißt, in erster Linie wirtschaftlich liberal, aber auch bis zu einem gewissen Grad sozial-liberal. Und die europakritischen Kräfte sind im Grunde genommen antiliberal.
Also, ich würde behaupten, das gilt auch für Deutschland. Wenn man sich zum Beispiel die Linken in Deutschland und die AfD anguckt, die beide so einigermaßen euroskeptisch sind oder auf jeden Fall gegen die Europäische Union, wie sie gerade existiert, die Linken würden natürlich sagen, sie sind für ein anderes Europa, sind nicht euroskeptisch an sich, aber das könnten auch das könnte auch die AfD behaupten, …
Deutschlandradio Kultur: Tun sie auch.
Hans Kundnani: Ja, eben, wir sind bloß für ein anderes Europa. Aber da sieht man eben diese liberale-antiliberale Spaltung, finde ich.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe gelesen, die Antieuropäer unter den Briten seien mehrheitlich pale, male and old. Das klingt auf Deutsch natürlich nicht so schön, also "weiße, alte Männer", was mich erinnert hat an die Trump-Anhänger, also Donald Trump, den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner in den USA, wo man ja auch sagt, seine größte Wählerbasis seien die angry white men, also, die wütenden weißen Männer.
Hans Kundnani: Genau. Und das ist genau das Gleiche. Also, das sind die Verlierer vom Neoliberalismus, würde ich sagen, oder von der Globalisierung, kann man auch sagen. Aber das sind die Leute, die das Gefühl haben, ob das richtig sei oder nicht, sie haben nicht profitiert von dieser Politik der letzten 25 Jahre.

Es gibt "three majestic circles"

Deutschlandradio Kultur: Wir haben den Punkt ja schon so ein bisschen gestreift, Herr Kundnani, dass politische Entscheidungen ja nicht nur aus rationalen Gründen getroffen werden, manchmal sogar das ja am Allerwenigsten. Wir haben schon immer mal von diesen Gefühlen gesprochen. In Deutschland gibt es ja so ein Europa-Pathos, von den Politikern sowieso, aber ich habe auch den Eindruck, das wird auch tatsächlich von vielen Menschen geteilt. Also, es gibt in Deutschland schon viele Anhänger, auch unter den Bürgern, dieser europäischen Idee. Und das liegt natürlich auch daran, dass die Deutschen sehr begierig danach waren, nach Nationalsozialismus und zweitem verlorenen Weltkrieg ihre Schuld etwas aufgehen zu lassen in dieser internationalen Gemeinschaft. Für Deutsche ist die Europäische Union also viel mehr als so eine Wirtschaftsgemeinschaft.
Hans Kundnani: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Und es gibt so eine emotionale Bindung. Und ich glaube, die gibt es in Großbritannien, weil die Geschichte ja eine ganz andere ist, die gibt es nicht so.
Hans Kundnani: Nein. Da stimme ich völlig zu. Ich würde nur dazufügen, dass es letztendlich aus meiner Sicht nicht nur um die Geschichte geht, sondern letztendlich auch um die Geographie. Es macht schon einen Unterschied, dass Großbritannien eine Insel im Atlantik ist, wogegen Deutschland wirklich in der Mitte Europas ist und war. Das war immer so. Das heißt, wenn man zum Beispiel die deutsche Geschichte anguckt, auch in den schlimmen Phasen der deutschen Geschichte, hat man die Zukunft Deutschlands und die Rolle Deutschlands immer in diesem europäischen Kontext verstanden, weil man bloß keine andere Wahl hat, wenn man wirklich in der Mitte Europas ist. Deutschland war in diesem Sinne, im negativen und im positiven Sinne, immer europäisch. Das war manchmal eine Gefahr für Europa. Es war manchmal sehr positiv.
Großbritannien hat einfach wegen dieser anderen Geographie eine ganz andere Geschichte, ein ganz anderes Verhältnis zu Europa. Es war immer abseits. Das hat dann dazu geführt, und das sehen wir jetzt ganz klar, Großbritannien hat Europa immer als eine Option verstanden unter verschiedenen. Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg legt das sehr schön, sehr klar dar, indem er sagt, es gibt diese drei Kreise, "three majestic circles" sagt er. Europa ist ein Kreis. Die Vereinigten Staaten, diese transatlantische Welt, und dann das ehemalige Empire, also Commonwealth. Und Großbritannien sitzt in der Mitte von diesen drei Kreisen. So sieht er sozusagen die Rolle Großbritanniens in der Welt. Und vieles hat sich inzwischen geändert, aber es bleibt noch so ein bisschen von dieser Vorstellung, wir gehören nicht nur zu Europa.

"Es ist sehr schwarz-weiß in Großbritannien"

Deutschlandradio Kultur: Wir sind was Besonderes. Ja, das ist auch interessant, weil die Anhänger eines Austritts aus der EU, die Brexit-Anhänger, ja auch so mit Transparenten rumlaufen, auf denen steht: "We want our country back." Margaret Thatcher wollte noch nur ihr money back, ihr Geld zurück haben. Und die wollen ihr Land zurück haben, weil sie eben Brüssel offenbar als eine Fremdherrschaft empfinden.
Hans Kundnani: Ja. Und das hat auch mit dem politischen System in Großbritannien zu tun. Also, wir haben einfach eine andere Vorstellung von Souveränität als in Deutschland. Und wir haben kein föderales System wie in Deutschland, wo die Souveränität sozusagen zerstreut ist. Also ist es sehr schwarz-weiß in Großbritannien. Die Souveränität sitzt im Parlament.
Deutschlandradio Kultur: Und Dank des Mehrheitswahlrechts noch mehr schwarz-weiß.
Hans Kundnani: Genau. Und wir tun uns einfach schwer mit dieser Vorstellung, die Souveränität ist etwas, was man teilt und es ist kompliziert. Dann fängt sofort die Debatte an: Was ist dann mit der Demokratie? Wer trägt eigentlich die Verantwortung?
Deutschlandradio Kultur: Aber Europa ist ja auch ein Projekt des Kompromisses. Wenn man in Brüssel ist und das sieht, 28 Staaten, die ringen miteinander, eine Lösung zu finden. Und in Großbritannien gibt es das Mehrheitswahlrecht und einer setzt sich durch.
Hans Kundnani: Genau. Und der Vorteil davon ist, es ist sehr klar, wer die Verantwortung trägt. Das Kabinett, die Regierung trägt die Verantwortung für die Politik. Und wir haben so ein bisschen diese Angst, das gilt auch zum Beispiel für Koalitionen. Also, diese Vorstellung, es gibt zwei Parteien in einer Koalition und dann wird in so einem geschlossenen Kreis verhandelt zwischen denen. Und man weiß nicht, was dann raus kommt, aber man weiß dann auch nicht, wer dafür verantwortlich ist. Ist die eine Partei daran schuld oder die andere? Das ist einfach sehr kompliziert.
Man kann sagen, so ist die Politik halt jetzt. So ist die Welt jetzt. Aber für die Briten mit einer anderen Geschichte, mit einem anderen System, kämpfen wir noch so ein bisschen damit.
Deutschlandradio Kultur: Ich haben den Eindruck, also, von Deutschland aus betrachtet, dass Mister Europe, also der Premierminister David Cameron, sein Hauptargument für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union ist, dass ein Austritt dramatische wirtschaftliche Folgen hätte. Das ist so diese Angstmache. Was mir so fehlt, ist ein positives Argument, irgendetwas, wo man sagt, wir bleiben in Europa, weil Europa gut für uns ist. Aber die Argumentation läuft so: Dann wird alles noch schlimmer.
Hans Kundnani: Ja, das stimmt.
Deutschlandradio Kultur: Das ist wenig attraktiv.
Hans Kundnani: Und das ist genau der Vorwurf von den Leavers, also von den Euroskeptikern. Sie nennen das project fear, Projekt Angst. Und es stimmt, dass die Argumente, die wir als Pro-Europäer machen, schon so negative Argumente sind: Die Alternative ist schlimmer.
Aber meine Frage an Sie wäre: Was sind diese positiven Argumente für Europa gerade, also in dem Fall Großbritanniens? Ich finde, die sind ziemlich schwierig zu finden, muss ich sagen. Es ist nicht, also ob sehr viele positive Argumente da sind, die vorhanden sind, die man einfach nicht einsetzt, sondern es ist gerade sehr schwierig, überhaupt ein positives Argument zu machen für Europa, aber insbesondere für Großbritannien, weil, für Großbritannien muss ich als ein Pro-Europäer das Argument machen: Es ist besser, sozusagen am Rande Europas zu sein in dieser dritten Stufe der Europäischen Union. Also, es gibt einen Kern um die Eurozone. Dann gibt es eine zweite Stufe, die Länder wie Polen, die sogenannten Pre-Ins, die irgendwann an der gemeinsamen Währung teilnehmen müssen. Und dann gibt’s eine dritte Stufe, Länder, die einen Opt-Out haben, die gar nicht daran teilnehmen.
Das heißt, ich muss das Argument machen, es ist besser da zu sein in dieser dritten Stufe und zu versuchen, von da aus unsere Interessen zu verfolgen, als ganz draußen zu sein. Und ich mache dieses Argument, aber das ist ein ziemlich schwieriges, also, es ist nicht ein besonders überzeugendes Argument.

Folgen für die EU sind zweitrangig

Deutschlandradio Kultur: Sie haben Recht. Die EU präsentiert sich gerade nicht von ihrer attraktivsten Seite mit der Schuldenkrise, der Eurokrise, der hohen Arbeitslosigkeit in Südeuropa, auch dass man sich nicht mal einigen kann über die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union. Also, die steht schwer unter Beschuss. Man könnte auch sagen, wenn jetzt Großbritannien austritt, dann wird es eine noch viel schwierigere Situation für die Europäische Union geben. Aber das ist den Brexit-Befürwortern dann egal?
Hans Kundnani: Nicht ganz egal, aber es geht natürlich in erster Linie um das britische Interesse. Was ist gut für die Briten? Das wird das Referendum entscheiden. Was dann die Folgen sind für die Europäische Union ist eher zweitrangig.
Dabei würde ich aber sagen, ich finde das zurzeit so ein bisschen übertrieben, diese Vorstellung: Wenn die Briten austreten, dann ist es der Anfang vom Ende der EU. Es könnte schon passieren, dass andere Länder – seien es die Niederländer oder die Franzosen – dann auch ein Referendum fordern. Aber wenn andere solche Referenden stattfinden und wenn dann irgendein anderes Land dafür stimmt auszutreten, ist es nicht, weil die Briten es gemacht haben, sondern weil sie auch unzufrieden sind mit der Europäischen Union. Das heißt, wenn überhaupt, ist ein Austritt Großbritanniens ein Katalysator, aber nicht die Ursache für eine solche Auflösung der Europäischen Union.
Deutschlandradio Kultur: Also, das würde heißen, dass schon die Diskussion über den Brexit dazu führt, dass Großbritannien den Finger in die Wunden der EU legt, also die Schwächen nochmal offenbart.
Hans Kundnani: Ja, das stimmt. Die Probleme sind da. Und ich meine, es ist nicht so, wenn die Briten einfach nicht existieren würden oder kein Referendum gehabt hätten, dass die Probleme nicht da wären. Also, für mich ist die größte Herausforderung für die EU, und davon wird die Zukunft Europas abhängen, diese Herausforderung der Euro-Krise und der Flüchtlingskrise. Und daraus die Frage, ob dieses Kerneuropa, das heißt, die Länder, die am Euroraum und am Schengenraum teilnehme, ob die ein gemeinsames Verständnis von Solidarität entwickeln können in der Wirtschaftspolitik, in der Flüchtlingspolitik, was für Rechte man hat, was für Verantwortung, wo man Solidarität zeigen muss, wo man Solidarität erwarten darf. Das ist die größte Herausforderung für die EU. Und Großbritannien nimmt nicht daran teil.
Deutschlandradio Kultur: Das wollte ich gerade sagen. Für Großbritannien wäre das ja dann eine noch größere Abschreckung. Denn das würde ja auf eine weitere, immer engere Zusammenarbeit dann hinauslaufen. Und das ist ja das, was die Briten auf keinen Fall wollen.
Hans Kundnani: Genau. Und deswegen, ich meine, ich will, dass dieses Kerneuropa um den Euroraum und den Schengenraum diese Herausforderungen bewältigt. Aber Sie haben Recht. Es würde dann dazu führen, dass Großbritannien noch weiter sozusagen am Rande ist. Deswegen ist für mich auch die Frage: Auch wenn wir in zwölf Tagen schon dafür stimmen, in der EU zu bleiben, wie kann man die Mitgliedschaft Großbritanniens mittelfristig nachhaltig machen?
Weil, ich glaube, die Frage wird nicht weggehen nach dem 23. Juni, auch weil es wahrscheinlich keine große Mehrheit geben wird für einen Verbleib, auch wenn wir schon dafür stimmen. Und das haben wir schon an dem schottischen Referendum erlebt. Die Frage geht nicht weg. Es ist nicht, als ob am 24. die Briten dann plötzlich die Europäische Union lieben werden. Die Frage wird noch bleiben.
Und wenn man keine Rolle findet für Großbritannien in der EU, außerhalb der Eurozone, außerhalb Schengen, aber trotzdem in der EU, dann glaube ich, dass man nochmal diese Debatte führt und vielleicht dann doch austritt.
Deutschlandradio Kultur: Aber diese Rolle zu finden, wäre ja die Aufgabe Großbritanniens.
Hans Kundnani: Nicht nur.

"Es gibt verschiedene Vorstellungen von Europa"

Deutschlandradio Kultur: Und es ist ja eher so gewesen in den vergangenen Jahren, Großbritannien hat ja wirklich nahezu bei allen Punkten Sonderregelungen für sich ausgehandelt, dass manche da nachts um Drei aus dem Verhandlungssaal taumelten und sagten: Gott, dann sollen sie doch austreten! – Das ist ihnen ja schon gelungen. Sie haben ja schon wirklich eine Sonderregelung. Jetzt haben natürlich alle Angst vor einem Austritt.
Also, es gibt für Großbritannien die verschiedensten Szenarien. Die Wirtschaft wird aufblühen. Die Wirtschaft wird furchtbaren Schaden leiden. Ich glaube aber schon, dass man sich ziemlich sicher sein kann, dass die Europäische Union Schaden nehmen wird, weil Großbritannien einfach ein großes, starkes, wirtschaftlich mächtiges, reiches Land ist. Und wenn das fehlt in der Europäischen Union, dann wird es schon aus diesen Gründen fehlen, abgesehen eben auch von dieser Ansteckungsgefahr, von der Sie gesprochen haben, dass natürlich die anderen, also in Frankreich, in Österreich usw., die sogenannten europaskeptischen Parteien, also die rechten, rechtspopulistischen Parteien Auftrieb bekommen werden. Es gibt ja sogar Umfragen aus Schweden, wonach eine Mehrheit der Schweden, sollte Großbritannien austreten, auch austreten möchte. Also, die Folgen sind wirklich nicht absehbar.
Hans Kundnani: Ja, aber andererseits könnte man argumentieren: Wenn der schwierigste Mitgliedsstaat nicht mehr Mitglied ist, dann kann man weiter vorangehen mit der Integration. Und es könnte auch Probleme lösen.
Also, ich glaube, man kann nicht beides argumentieren. Entweder gibt es eine Ansteckungsgefahr, was heißen würde, die Briten sind nicht so eine Ausnahme. Das heißt, die Probleme mit der Europäischen Union, die die Briten haben, haben auch andere in der EU. Oder man sagt: Die Briten sind schon eine Ausnahme wegen dieser Inselstellung usw. Aber dann heißt es, es gibt keine Ansteckungsgefahr. Das ist ein bisschen so ein Widerspruch, finde ich.
Deutschlandradio Kultur: Na ja, wie Sie richtig sagen: Die Briten haben sich viele Ausnahmeregelungen erstritten. Ich glaube, das kann man nicht leugnen. Und zum anderen gibt es eben auch eine große Europaskepsis innerhalb der Mitgliedsstaaten. Das stimmt auch, auch gerade mit diesem Argument, es wäre ein Elitenprojekt. Es ist nach wie vor sehr schwer. Fragen Sie jeden x-beliebigen gebildeten Menschen: Erzähle mir mal kurz, welche Aufgabe hat der Rat, die Kommission und das Parlament? Ich glaube, das kann keiner wirklich aus dem Stehgreif beantworten. Es ist ein schwieriges System. Und die populistischen Parteien, die jetzt nicht EU als ersten Platz auf der Agenda haben, haben überall Zulauf in Europa.
Hans Kundnani: Ja, genau. Für mich ist die Frage die folgende oder die allgemeine Frage, die Großbritannien gerade aufwirft: Inwiefern darf es Vielfältigkeit geben in der Europäischen Union? Und die Briten sind das beste Beispiel dafür, dass man sagen kann, nein, wir haben andere Interessen. Wir wollen deswegen zum Beispiel ein Opt-Out oder einen Sonderstatus. Und wir sind natürlich das extremste Beispiel dafür. Aber es gibt auch andere Länder, die sagen, wir sind nicht mit allem zufrieden.
Und die Frage ist, inwiefern diese Vielfältigkeit erlaubt wird in der Europäischen Union. Insbesondere inwiefern die Europäische Union heißt, man muss an der gemeinsamen Währung teilnehmen, man muss am Schengen-Raum teilnehmen, man muss an diesen ganzen Projekten teilnehmen, oder inwiefern man sagt: Nein, es gibt verschiedene Vorstellungen von Europa.
Deutschlandradio Kultur: Muss man ja nicht.
Hans Kundnani: Ich weiß. Aber was das Beispiel von Großbritannien zeigt, ist, dass es dazu führt, wenn man nicht daran teilnimmt, dass die Europäische Union immer weiter in Richtungen geht, die dann die eigenen Interessen unterminieren und dass man keinen Einfluss hat oder weniger Einfluss, weil man nicht am Tisch ist.
Deutschlandradio Kultur: Das stimmt.
Hans Kundnani: Also, das beurteile ich nicht, sondern ich sage einfach, das ist eine Feststellung, die Großbritannien gemacht hat.

"Ich vertraue, ehrlich gesagt, den Umfragen eh nicht"

Deutschlandradio Kultur: Am wenigsten Einfluss wird Großbritannien natürlich haben, wenn Sie ausgetreten sind.
Hans Kundnani: Ja, genau.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kundnani, ich finde ja so liebenswert an den Briten, dass die ja auf alles Wetten abschließen und natürlich auch auf den Ausgang des Referendums. Bisher besagen die Buchmacherquoten noch, dass Großbritannien in der EU bleiben wird, also die Wettquoten sehen so aus. – Wie lautet Ihr Tipp?
Hans Kundnani: Ich kann es nicht beurteilen. Die Umfragen sind ziemlich unklar. Und ich vertraue, ehrlich gesagt, den Umfragen eh nicht. Die waren alle total falsch bei den letzten Wahlen 2015. Aber das ist interessant, wie Sie sagen, dass die Wettmacher ganz andere Erwartungen haben. Die sind schon ziemlich überzeugt anscheinend, dass man für einen Verbleib wählt. Also, wenn ich wetten müsste, würde ich behaupten, die Briten werden sozusagen die vorsichtigere Wahl treffen, und zwar in der EU zu bleiben.
Deutschlandradio Kultur: Und wie viel Pfund oder wie viel Euro würden Sie darauf setzen?
Hans Kundnani: Nicht viel, einen.
Deutschlandradio Kultur: Danke, Herr Kundnani, für das Gespräch.
Hans Kundnani: Danke.
Deutschlandradio Kultur: Hans Kundnani ist Senior Transatlantic Fellow am German Marshall Fund noch hier in Berlin, demnächst dann in Washington. Und bei C. H. Beck ist vor Kurzem sein Buch erschienen "German Power. Das Paradox der deutschen Stärke".
Nächste Woche ist Rudolf Seiters unser Gesprächspartner in Tacheles, der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.