Reden über Sex

16.02.2011
Der Titel des Buches ist irreführend. Und er spielt mit einem Klischee: dem Klischee des sinnenfeindlichen, verklemmten Deutschland der Adenauerzeit, mit dem Bild der 50er-Jahre als einer Epoche der Prüderie. Doch diese Einschätzung, so die werbenden Texte für Sybille Steinbachers umfangreiches Buch, täusche, denn lange vor 1968 und der "sexuellen Revolution" habe es sogenannte "Sexwellen" gegeben.
Diese Analyse trifft zu – wenngleich sie weniger überrascht, als Verlag und Autorin suggerieren. Allerdings: In dem durchaus lesenswerten Buch (der Habilitationsschrift der Autorin), geht es keineswegs nur um die 50er- und 60er-Jahre in der Bundesrepublik – Steinbacher spannt vielmehr einen weiten Bogen, der vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Jetztzeit reicht. Und es geht ihr nicht darum, wann, wie und warum die eine oder andere "Sexwelle" – vornehmlich US-amerikanischer Provenienz – deutsche Küsten erreichte, es geht vielmehr um den Diskurs über Sexualität. Man kann auch einfacher sagen: Es geht um das Reden über Sex und Sexualität in Deutschland.

Dazu fördert Steinbacher Neues, Überraschendes und auch Kurioses zutage. So erklärt sie die Herkunft des Begriffspaares "Schmutz und Schund" – Kampfbegriffe einer konservativen Initiative, deren meist katholische Mitglieder sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor allem vom "Pöbel" abheben wollten. Zugeknöpftheit als Indiz für "Bürgerlichkeit". Es ist interessant zu lesen, wie diese – im Übrigen immer kleine – Lobby der Lustfeindlichen vorübergehend Einfluss gewann und welche Rolle den Medien zukam.

Sogenannte "Magazine", Heftchen mit erotischem Inhalt, brachten seit Anfang des 20. Jahrhunderts und dann, in einer Zeit improvisierten Wirtschaftens nach dem Zweiten Weltkrieg, die Botschaft von der "befreiten" Sexualität oder Sex als Bestandteil von individuellem Lebensgenuss unters Volk. Die Verfasser der Kinsey-Reporte aus den USA und die Produzenten des deutschen Erotikkonzerns von Beate Uhse sind dabei die Kronzeugen für Steinbacher; die Debatten um beide zeigen, dass es vor allem die Medien waren, die den grundsätzlichen Widerspruch im Nachkriegsdeutschland thematisierten: Ging es den einen nach wie vor darum, sich in Abgrenzung zu "proletarischen", später "chaotischen" Gruppen als "Bürgerliche" zu behaupten, sahen andere in "freier Sexualität" einen Ausweis der liberalen, demokratischen Gesellschaft.

Schade, dass Steinbacher ausschließlich die Bundesrepublik meint, wenn sie von "Deutschland" spricht. Der so anders geartete Umgang mit Sexualität in der DDR wäre mehr als einen vergleichenden Blick wert gewesen! Schade auch, dass das Buch zwar einen umfangreichen Anmerkungsapparat und ein Personenregister, nicht aber ein Stichwortverzeichnis enthält. Das hätte bei der Orientierung sehr geholfen.

Wer neugierig auf ein bislang wenig beachtetes Feld in der Politik- und Gesellschaftsgeschichte der frühen Bundesrepublik ist, der kann aus Sybille Steinbachers Buch viel lernen – nicht nur über Sexualität und Erotik und unseren heiklen Umgang damit, sondern auch über die innere Verfasstheit der Republik, deren Widersprüche anschaulich und präzise beschrieben werden.

Besprochen von Gabriela Jaskulla

Sybille Steinbacher: Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik
Siedler Verlag, München 2011
576 Seiten, 28 Euro