"Rechtlich ist man völlig machtlos"

Stefan Koldehoff im Gespräch mit Ulrike Timm · 02.05.2012
Um Munchs bekanntestes Bild schwelt ein Streit mit den Erben des jüdischen Sammlers Hugo Simon - sie sagen, er habe das Bild 1937 unter Druck verkauft. Auch Kunstexperte Stefan Koldehoff findet, dass dem Umgang mit dem Bild "ein Geschmäckle" anhaftet.
Ulrike Timm: Kaum ein Gemälde hat solch eine Wirkung entfaltet wie Edvard Munchs "Der Schrei". Der schreckverzerrte Mund, die tiefen Augenhöhlen im nur angedeuteten Gesicht der Gestalt auf der Brücke stehen ebenso für persönliche Ängste wie für gesellschaftlichen Schrecken. Edvard Munch hat die große Wirkung seines Gemäldes nicht mehr erlebt, ihm war auch sein krankes Kind viel wichtiger. Aber "Der Schrei" ist inzwischen fast so bekannt wie die "Mona Lisa".

Drei der "Schrei"-Versionen von Edvard Munch hängen im norwegischen Museum. Das vierte Bild, ein Pastell, wird heute Abend bei Sotheby’s in New York versteigert. Und alle Welt rechnet damit, dass dieses Bild über 100 Millionen bringen wird. Das ist schön für Petter Olsen, der es verkauft und vom Erlös ein neues Munch-Museum bauen will. Aber der Verkauf an sich ist nicht in Ordnung, so melden sich jetzt in ziemlich letzter Minute die Erben des jüdischen Kunstsammlers Hugo Simon zu Wort, dem das Bild bis 1933 gehörte.

Lässt sich Sotheby’s also auf die Versteigerung eines Werkes ein, das 1933 unter Zwang verkauft wurde? Dazu Fragen an unseren Kunstexperten, den Kunstexperten unseres Hauses, an Stefan Koldehoff. Schönen guten Tag, ich grüße Sie!

Stefan Koldehoff: Guten Tag!

Timm: Was weiß man denn eigentlich genau über die problematische Vorgeschichte dieses Bildes?

Koldehoff: Man weiß nicht richtig viel. Man weiß, dass dieses Bild im Entstehungsjahr 1895 von einem Braunschweiger Sammler, von Arthur von Franquet nämlich, angekauft wurde und dass der es dann 1926 weiter verkaufte an Hugo Simon, einen angesehenen Bankier, Kunstsammler, Freund von unter anderem Albert Einstein, Heinrich Mann, Thomas Mann, Stefan Zweig und anderen in Berlin. Hugo Simon war Jude, das heißt, als 1933 die Nazis an die Macht gewählt wurden, musste er ziemlich schnell Deutschland verlassen, weil er zum Staatsfeind erklärt worden war, weil sein Vermögen zu großen Teilen beschlagnahmt wurde und er selbst seinen Beruf nicht mehr ausüben durfte.

Er ist dann geflohen, nach Frankreich zunächst mal, und hat schon im Oktober 1933 versucht, das Bild zu verkaufen, über eine Kunsthandlung in Amsterdam nämlich. Da hat es allerdings offenbar keinen Käufer gefunden, deswegen wurde das Bild zusammen mit einigen wenigen anderen, die Hugo Simon aus Deutschland hatte herausschaffen können, nach Zürich ins Kunsthaus gebracht, dort deponiert und von da schließlich im Januar 1937 zunächst an eine Galerie in Stockholm und von da dann an die Familie Olsen in Oslo verkauft.

Wie das alles von sich ging, also, ob die klassischen Kriterien, die zum Ausschluss von NS-Raubkunstverdacht international anerkannt sind, denn zutreffen, nämlich erstens freiwilliger Verkauf, zweitens angemessener Kaufpreis wurde gezahlt, und drittens, über diesen Kaufpreis konnte der Empfänger, sprich, Hugo Simon, auch tatsächlich verfügen, ob das alles zutrifft, das ist vollkommen ungeklärt. Und Sie haben vorhin schon von der großen Wahrscheinlichkeit eines Verkaufs unter Druck gesprochen. Wenn man mit der Familie spricht – ich hatte heute Morgen E-Mail-Kontakt mit den Erben in Südamerika –, dann beschreiben die schon, dass Hugo Simon und seine Familie im Exil, zunächst in Paris, dann, nach dem Einmarsch der Nazis dort, in Südfrankreich und später in Südamerika, in sehr, sehr ärmlichen Verhältnissen gelebt hat, irgendwie gucken musste, wie er sich und seine Familie über Wasser hielt, und dafür unter anderem die wenigen Bilder, die er hatte retten können, auch verkaufen musste.

Timm: Nun sind solche Zwangsverkäufe ja so ein schwieriges Kapitel, weil sie auf der einen Seite so offensichtlich sind, die Notsituation von jüdischen Sammlern während der Nazizeit, die muss man nicht belegen, die war einfach da, und andererseits ist sie eben schwer zu belegen, weil Kaufverträge fehlen und dergleichen, also juristische Dinge eben schwer nachweisbar sind. Nun hatten Sie Kontakt zu Rafael Cardoso, zu dem Nachfahren der Erben, die sich ja erst ganz spät zu Wort gemeldet haben. Welchen Eindruck hatten Sie, welchen menschlichen Eindruck auch? Was ist diesen Erben denn heute wirklich wichtig?

Koldehoff: Also, man ist ja immer sehr schnell bei der Hand mit der Behauptung, denen geht es nur ums Geld, das sind jetzt die großen Raffzähne, die 60, 70 Jahre, nachdem sie sich um überhaupt nichts gekümmert haben, plötzlich mit ihren Forderungen aus dem Busch kommen. Den Eindruck habe ich in dem Fall nicht. Herrn Cardoso, das ist der Ururenkel von Hugo Simon, ist ganz klar, dass sie keinerlei legale Ansprüche verfolgen können. Hätte es die jemals gegeben, wären die längst verjährt.

Es gibt zwar bestimmte Regelungen, festgehalten in der Washingtoner Konferenz von 1998, dass unter diesen bestimmten Kriterien, die ich vorhin genannt habe – fairer Kaufpreis, verfügbar, nicht unter Druck verkauft –, dass Bilder da restituiert, also zurückgegeben werden sollen; diese Washingtoner Erklärung bezieht sich aber nur auf Bilder in öffentlichem Besitz, also in öffentlichen Museen. Deswegen ist diese Erklärung von Staaten verabschiedet worden. Auf Privatbesitz hat die sich nie erstreckt.

Das heißt, rechtlich ist man völlig machtlos. Cardoso sagt aber auch ganz deutlich: Wir sind mit Sotheby’s nicht erst seit Wochen, auch nicht erst seit Monaten, sondern seit Jahren in Kontakt. Wir wissen seit vielen Jahren, dass die dieses Bild für Olsens gerne verkaufen wollen, und wir haben denen immer wieder gesagt, wir möchten bitte, dass anerkannt wird, dass dieses Bild mal Hugo Simon gehört hat und dass es unter Druck abgegeben wurde, und wir hätten schon auch gerne eine finanzielle Kompensation. Angeboten worden sind ihnen wohl von Familie Olsen 250.000 Dollar, so heißt es. Das ist sehr wenig, wenn man sieht, dass das Bild mit 80 bis 100 Millionen Dollar jetzt geschätzt wird, heute Abend der Preis womöglich noch viel, viel höher geht.

Aber es gibt noch einen zweiten ganz komischen Punkt: Im Februar schon hat Sotheby’s, das große Auktionshaus, in einer fünf-, sechsseitigen Presseerklärung mitgeteilt, dass dieses Bild nun unter den Hammer kommt, und in dieser Presseerklärung ist von Hugo Simon überhaupt keine Rede. Da wird zwar ausführlich beschrieben, wie wichtig das Bild ist, da wird auch auf die Geschichte eingegangen und erzählt dann aber nur, dass Olsen ganz wichtig war, weil, als etwa Munch in Deutschland als entartet verfemt wurde, er es geschafft hat, für den befreundeten Künstler 74 Werke aus Deutschland zu retten, Werke, die aus deutschen Museen entfernt worden waren, dass er dann versucht hat, trotz dieser Verfemung in Deutschland durch Geschenke an Museen wie die Tate in London Munch trotzdem im Bewusstsein zu halten. Kein Wort von Hugo Simon, obwohl man – so jedenfalls die Erben – schon seit Jahren mit der Familie in Kontakt war. Und das ist zumindest, na, es hat so ein Geschmäckle.

Timm: Das hat ein Geschmäckle, ja.

Koldehoff: Das klingt schon so, als habe man da ein bestimmtes Thema ausklammern wollen.

Timm: Und irgendwo ein schlechtes Gewissen auch, wenn es, wie Sie uns geschildert haben, keine juristische, sondern eine moralische Frage steht und ein direkter Anspruch wohl nicht besteht. Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Stefan Koldehoff über die Versteigerung von Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei" heute Abend in New York. Und, Herr Koldehoff, das Bild wird nur kriegen, wer mehr als 100 Millionen locker machen kann. Von Krise am Kunstmarkt ist einmal mehr nichts zu spüren!

Koldehoff: Nein, gerade in diesem Frühjahr übrigens nicht. Also, ich kann mich – und ich verfolge den Kunstmarkt nun seit fast 20 Jahren – nicht daran erinnern, dass jemals auf einen Schlag so viele Gemälde angeboten wurden, die einen Schätzpreis jenseits der 15 bis 20 Millionen Dollar gehabt haben. Das war gestern eine Zeichnung von Cézanne, das ist heute Abend der Munch, dann erwarten uns noch ein großer Matisse, es kommen in der nächsten Woche Bilder von Jackson Pollock, von Yves Klein, von Mark Rothko, alle so in diesem Schätzungsbereich 20, 30 Millionen Dollar. Das ist schon relativ sensationell, zeigt aber auch, dass der Planet Kunstmarkt einfach in einem ganz eigenen Universum um seine Sonne, die Kunst, kreist und dass die Leute, oder dass es Leute gibt, muss man viel mehr sagen, die sich so was einfach leisten können, ganz egal, ob in Afrika gerade Revolutionen stattfinden, ob bin Laden in Arabien gefangen wird oder ob die Banken in Europa crashen.

Timm: Na ja, bin Laden ist seit einem Jahr tot, aber man fragt sich ja trotzdem: Wer kauft solche Bilder denn? Solche Preise können öffentliche Museen ja nicht zahlen, und werden immer mehr Ikonen der Kunstgeschichte jetzt zukünftig in Privatsafes verschwinden oder bei Milliardären überm Kaffeetisch hängen?

Koldehoff: Ja, da muss man, glaube ich, mit rechnen. Im März hat die große Kunstmesse in Maastricht stattgefunden und zu dieser Kunstmesse wird immer ein Market Report veröffentlicht, wie geht es denn dem Kunstmarkt. Und da wurde zum allerersten Mal festgestellt, dass China als Kunstmarkt alle anderen Nationen, selbst die großen USA, überrannt hat. Also, nirgends ist im vergangenen Jahr so viel Umsatz mit Kunst gemacht worden wie in China. Und das bedeutet schon lange nicht mehr nur noch Porzellan und Jadeschmuck und solche Geschichten, nein, es gibt auch in China Sammler, die inzwischen die klassische Moderne und sogar die Nachkriegskunst für sich entdeckt haben. Das ist die eine große Käufergruppe.

Und die zweite große Käufergruppe beziehungsweise der zweite große Käufer, muss man wohl sagen, sitzt in Katar, in Arabien, das ist die dortige Herrscherfamilie, die seit Jahren ein großes Museum für moderne Kunst vorbereitet. Gerüchten zufolge haben die bereits die letzte privat besessene Fassung der "Sonnenblumen" von van Gogh gekauft, nicht dementierten Berichten zufolge haben die im vergangenen Jahr 240 Millionen – 240 Millionen, kein Versprecher! – Dollar für ein Gemälde, "Die Kartenspieler" von Cézanne, gekauft. Das sind Trophäenbilder, und wenn die Interesse am Munch haben, dann können Sie davon ausgehen, dass wir auch das Bild demnächst in Katar angucken können.

Timm: Trophäenbilder, Herr Koldehoff, das Wort merke ich mir. – Dreimal können Sie Edvard Munch, den "Schrei", in öffentlichen Museen in Norwegen sehen, fürs vierte Mal müssen Sie eventuell nach Katar fahren, könnte sein. Heute Abend wird das vierte Bild, "Der Schrei" von Edvard Munch, versteigert, eine Versteigerung, die keine juristischen, aber doch moralische Fragen aufwirft. Darüber und über den Kunstmarkt sprach ich mit unserem Experten Stefan Koldehoff, ich danke Ihnen sehr!

Koldehoff: Sehr gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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