Raus aus der Filterblase

Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben?

Anonyme Menschenmenge am Bahnhof
Wie wollen wir zusammenleben? In der Anonymität abtauchen oder Interesse füreinander aufbringen? © Unsplash / Timon Studler
Von Shai Hoffmann · 18.01.2018
Wie wir in Zukunft miteinander leben wollen, ist für den Aktivisten Shai Hoffmann eine wichtige Frage. Um Antworten zu finden, ist er mit dem "Bus der Begegnungen" durch ganz Deutschland gefahren und hat mit Menschen landauf, landab gesprochen. Hier teilt er seine drei wichtigsten Erkenntnisse.
Hand aufs Herz: Wann waren Sie eigentlich das letzte Mal bei Ihrer Nachbarin oder Ihrem Nachbarn, um zu fragen, wie es ihm oder ihr geht? Ja, einfach so, ohne, dass Sie nach Mehl, einem Nudelholz oder einer Leiter gefragt haben?
In meiner Heimatstadt Berlin gibt es Wohnviertel und Häuser, in denen Sie in die Anonymität abtauchen können. So sehr, dass man nicht einmal bemerken würde, ob der Nachbar tagelang entweder nicht zu Hause ist oder vielleicht nicht mehr unter uns weilt.
Die Frage, wie wir als Gesellschaft zusammenleben möchten, sollten wir uns also nicht nur anlässlich der vermeintlichen Flüchtlingskrise stellen. Im "New York Magazine" las ich letztes Jahr einen Artikel von David Wallace-Wells, der ein dystopisches Bild der Klimawandelfolgen zeichnet. Im Zuge seiner Recherche sprach er mit renommierten Klimaforschern und kam unter anderem zum Ergebnis, dass wir die Erderwärmung nur aufhielten, wenn wir unverzüglich begännen, unsere globale Landwirtschaft emissionsfrei zu gestalten.
Andernfalls käme es unweigerlich zu einer noch größeren Völkerwanderung, die Flüchtlingskrise 2015 erschiene dann im Vergleich zur klimawandelbedingten Migration von Abermillionen von Menschen fast schon lapidar.

In andere Lebensrealitäten gesogen

Ich möchte Sie jedoch keineswegs entmutigen, im Gegenteil. Ich möchte versuchen, die vorhin gestellte Frage zu beantworten: Wie möchten wir als Gesellschaft zusammenleben?
Diese Frage trieb mich kurz vor der Bundestagswahl so stark um, dass ich mit Freunden in einen sehr charmanten roten Oldtimer Doppeldeckerbus gestiegen und im "Bus der Begegnungen" durch Deutschland gefahren bin. Ich wollte außerhalb der sozialen Medien, also meiner digitalen Filterblase, Menschen im echten Leben begegnen. Ich ließ mich auf die teils sehr emotionalen und privaten Geschichten sowie Schicksale ein und wurde in andere Lebensrealitäten eingesogen.
Der "Bus der Begegnungen"
Der "Bus der Begegnungen"© Magdalena Bienert | Deutschlandfunk Nova
Ich begegnete aber auch vielen Menschen, die der Zukunft pessimistisch entgegenschauen. Denen die Zuwanderung ein Unbehagen bereitet und die sich zurückgelassen fühlen. Einige sympathisieren mit der AfD. Auch ihnen hörte ich aufrichtig zu und versuchte durch Nachfragen zu verstehen, wo wir Ängste und Bedenken gemeinsam aus dem Weg räumen können.

"Zuhören bewirkt Wunder"

Diese Reise im "Bus der Begegnungen" war vermutlich die wichtigste Reise, die ich bisher in meinem Leben angetreten bin. Ich wollte gemeinsam mit meinen Freunden ein Zeichen für eine neue Diskurskultur setzen; für aufrichtige Begegnungen. Also, eigentlich genau das, wofür die Kanzlerin am Ende ihrer Neujahrsrede 2017 plädierte. Nämlich für "Achtung im umfassenden Sinne - aufmerksam sein, wirklich zuhören, Verständnis aufbringen…".
Zum Abschluss möchte ich gerne meine drei Erkenntnisse der Reise teilen, die auf meine Frage nach dem Zusammenleben eine mögliche Lösung bieten könnten.
Erstens: Zuhören bewirkt Wunder. Ich war erschrocken und überrascht zugleich, wie oft uns Menschen dafür gedankt haben, dass wir ihnen einfach "nur" zuhörten. Ich hatte das Gefühl, dass wir durch das Zuhören relativ schnell eine vertrauensvolle Verbindung zu den Menschen aufgebaut hatten, weil sie merkten, dass wir ihnen nicht unsere Meinung aufdrängen wollten.
Zweitens: Deutschland fehlt eine tragfähige positive Vision, die eine neu gedachte Narrative einer gemeinsamen sozialen und demokratischen Gesellschaft im entfesselten Kapitalismus sowie der unaufhaltsamen Digitalisierung begründet und dabei radikal uns Menschen in den Vordergrund stellt. Diese Sehnsucht haben wir in den Gesprächen mit den Menschen vor Ort herausgehört.

Wir sind uns ähnlicher als wir denken

Und drittens: Auf diese Vision können wir warten. Oder es einfach selbst in die Hand nehmen. Jede und jeder für sich, an jedem Tag, zu fast jeder Zeit.
Sie müssen natürlich nicht gleich mit einem Doppeldeckerbus durch Deutschland fahren, aber vielleicht schenken Sie Ihrem/r Nachbar*in oder Kolleg*in bei der nächsten Begegnung mal bewusst Ihr Gehör. Dabei werden Sie feststellen, dass wir uns ähnlicher sind, als sie vielleicht denken – ganz gleich welcher Herkunft, Religion oder Hautfarbe. Vom "ihr" zum "wir" durch Dialog, Respekt und Verständnis.
Shai Hoffmann ist Social Entrepreneur, Speaker, Dozent und Aktivist. Initiator vom Bus der Begegnungen, Mitgründer der Karma Classics (fair und nachhaltig produzierte Mode) sowie der Initiative Get Engaged für mehr zivilgesellschaftliches Engagement. Auf seinem Facebook-Kanal interviewt er im Rahmen eines Facebook Live Formats "Auf einen Çay mit Shai" nachhaltige, soziale und inspirierende Projekte und Persönlichkeiten. Shai hat israelische Wurzeln, er lebt und arbeitet in Berlin und anderswo.
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