Rassismus aus der Sicht von Kindern

Von Eva Pfister · 11.07.2010
Harper Lee schildert in ihrem Roman den alltäglichen Rassismus in den amerikanischen Südstaaten der 30er-Jahre. Sie traf damit 1960 ins Herz einer vom Rassismus aufgewühlten Gesellschaft. Über 30 Millionen Exemplare wurden verkauft.
Eine kleine Stadt in Alabama im Jahr 1936: Der Schwarze Tom Robinson wird beschuldigt, eine Weiße vergewaltigt zu haben. Obgleich alle wissen, dass die blauen Flecken in Wahrheit vom Vater der jungen Frau stammen, einem stadtbekannten Säufer, verurteilen die Geschworenen den Schwarzen zum Tode. Schonungslos realistisch schildert Harper Lee in ihrem Roman "Wer die Nachtigall stört" den Rassismus in den amerikanischen Südstaaten. "To kill a Mockingbird”, wie der Roman im Original heißt, also "Eine Spottdrossel töten", erschien am 11. Juli 1960 und erwies sich sogleich als großer Erfolg.

Das lag auch daran, dass die Ereignisse aus der Perspektive eines kleinen Mädchens geschildert werden. Nie können uns das Gute und das Böse in der Welt so tröstlich und erschreckend berühren, als wenn sie durch die Augen eines Kindes gesehen werden, so leitet Gregory Peck den Trailer zum gleichnamigen Film ein.

Die Ich-Erzählerin des Romans ist die 8-jährige Scout, deren Vater Atticus Finch den angeklagten Tom Robinson verteidigt. Schon vor dem Prozess wird die Familie deshalb angefeindet, wie Scout auf dem Schulhof erfahren muss.

"Stimmt das wirklich, dass du Nigger verteidigst?" – "Natürlich Scout. Aber sag nicht Nigger, das ist hässlich."

Liebevoll klärt Atticus seine Tochter darüber auf, was Gerechtigkeit und Zivilcourage bedeuten, hier in einer Bearbeitung des Rundfunks der DDR aus dem Jahr 1975:

"Wenn du ihn nicht verteidigen sollst, warum tust du es dann?" - "Vor allem deshalb, weil ich nicht mehr mit erhobenem Kopf durch die Stadt gehen könnte, weil ich Maycomb County nicht mehr in der Kammer vertreten und weil ich dir und Jem sonst nicht mehr in die Augen sehen könnte."

Maycomb ist ein fiktiver Ort. Er ähnelt der Stadt Monroeville in Alabama, wo die Autorin Harper Lee im April 1926 zur Welt kam. Ihr Vater war - wie Atticus - Anwalt und Abgeordneter, und auch Harper Lee begann ein Jurastudium, das sie aber abbrach, um sich dem Schreiben zu widmen. In New York arbeitete sie bei einer Fluggesellschaft, bis Freunde ihr ein ganzes Jahresgehalt schenkten, damit sie ihren Roman fertig schreiben konnte. Unterstützung fand sie auch bei ihrem Jugendfreund Truman Capote, den sie darin als fantasievollen Spielgefährten namens Dill porträtierte.

"Wer die Nachtigall stört" verdankt seinen Erfolg nicht nur dem aktuellen Thema, sondern auch dem humorvollen Erzählton sowie der Verknüpfung von Justizroman und Abenteuergeschichte. Diese rankt sich um Boo Radley, einen Nachbarn, der die Neugier der Kinder erweckt, weil er nie das Haus verlässt, und der sie am Ende vor dem Überfall eines Rassisten rettet. Scout ist sich mit dem Sheriff einig, dass man Boo Radley nicht ins grelle Rampenlicht der Ermittlungen einbeziehen dürfe, denn:

"Das wäre doch ungefähr so, als würde man eine Nachtigall stören, nicht wahr?"

Atticus zog mich an sich und rieb sein Kinn an meinem Haar. Dann ging er zu Boo Radley, drückte ihm die Hand und sagte: "Ich danke Ihnen für meine Kinder."

"To kill a Mockingbird” gewann 1961 den Pulitzerpreis als bester Roman und wurde 1962 von Robert Mulligan verfilmt. Für seine Darstellung des Atticus Finch gewann Gregory Peck einen von drei Oscars, mit denen der Film ausgezeichnet wurde. Höhepunkt ist sein Schlussplädoyer als Verteidiger.

Nie hätte dieser Fall vor Gericht kommen dürfen, so Atticus, denn er sah es als erwiesen an, dass es die junge Frau war, die Tom Robinson verführen wollte. Aber das könne sie nicht zugeben, denn sie habe etwas Unaussprechliches getan: einen Schwarzen geküsst.

Harper Lees Roman "Wer die Nachtigall stört” traf 1960 ins Herz einer vom Rassismus aufgewühlten Gesellschaft. Er wurde über 30 Millionen Mal verkauft und 1999 in einer Umfrage des "Library Journal" zum Roman des Jahrhunderts erkoren.