Ramelow: NRW-Linke muss Tauglichkeitstest bestehen

Bodo Ramelow im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler · 15.05.2010
Der Fraktionschef der Linken im Thüringer Landtag, Bodo Ramelow, sieht seine Partei in Nordrhein-Westfalen in der Pflicht, als Regierungspartei Verantwortung zu übernehmen. Zugleich erteilte er den gegenseitigen Anfeindungen von Linkspartei und SPD in NRW eine klare Absage.
Deutschlandradio Kultur: Sie empfehlen den Linken in Nordrhein-Westfalen eine Koalition mit der SPD und den Grünen. Wen wollen Sie damit bestrafen?

Bodo Ramelow: Im Kern möchte ich damit deutlich machen, dass unsere Partei gesamtdeutsch ein hohes Gewicht bekommen hat und die SPD sich nicht mehr aus der Verantwortung ziehen kann. Die SPD hat in Nordrhein-Westfalen beim Wahlkampf so kräftig links geblinkt und sie hat immer gesagt, dass eins ihrer Ziele sei, die Linke aus dem Landtag rauszuhalten. Jetzt haben wir die Situation, die Linke ist drin. Frau Kraft kann ohne uns nicht Ministerpräsidentin werden. Und sie müsste sich überlegen, wie sie jetzt ihre Politik, die sie den Wählern versprochen hat, auch umsetzen kann. Und deswegen empfehle ich meiner Fraktion und meiner Landespartei dafür zu sorgen, dass die SPD an der linken Seite festgebunden wird, damit wir eine linke Politik in Nordrhein-Westfalen und auch in ganz Deutschland bekommen. Denn es geht um mehr als nur eine Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Es geht um den Bundesrat. Und dann geht es im Kern um die Frage Kopfpauschale oder eine Bürgerversicherung, die auf der Gesellschaft aufbaut, das heißt, den Marktradikalen endlich eine Abfuhr zu erteilen – nicht mehr und nicht weniger an Verantwortung hat unsere Linke Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen.

Deutschlandradio Kultur: Aber sie hat auch ein großes Problem. Sie sagt zumindest, sie will gar nicht so richtig regieren. Zurzeit würden jegliche Regierungsbeteiligungen die Partei in die falsche Richtung verändern, sagt beispielsweise Katharina Schwabedissen. Und die ist immerhin NRW-Landesvorsitzende. Also, die Linke will nicht.

Bodo Ramelow: Doch, die will Politik machen. Und Frau Schwabedissen weist darauf hin, dass es keine Koalition mit uns gibt, bei der einfach nur ein "Weiter-so" praktiziert wird. Und deswegen finde ich den Einwurf von ihr berechtigt, dass man den Preis und den Wert einer Koalition vorher in der Partei debattieren muss. Ich denke, wir werden auch in Nordrhein-Westfalen, selbst wenn man in die Richtung dort offensiv gehen würde, wie ich es vorschlage, wird man trotzdem eine Mitgliederbefragung machen müssen, damit ein Koalitionsvertrag am Schluss auch durch unsere Mitglieder getragen wird. Wir müssen den Tauglichkeitstest als Partei bestehen. Wir müssen ihn überall bestehen. Wir sind jetzt in sieben westdeutschen Landesparlamenten als Partei vorhanden. Wir sind in sechs ostdeutschen, das heißt, wir sind in 13 Landesparlamenten eine gewichtige Kraft.
Ich kann den Wunsch verstehen, derzeit nicht regieren zu wollen, wenn man frisch irgendwo reingekommen ist. Das kann ich gut nachvollziehen. Das erhöht den Druck auf alle anderen Landtagsfraktionen, genügend Personal von Anfang an zur Verfügung zu stellen. Wir haben es bei anderen neuen Landtagsfraktionen auch gemeinsam geschafft, reibungslos die Politik zu entwickeln. "Reibungslos" heißt, den Aufbau, das Einrichten und die Arbeit aufnehmen im Parlament. Und in Nordrhein-Westfalen käme eine zweite Last hinzu. Wir müssten koalitionsfähig sein und regierungsfähig. Das heißt, wir müssen ja auch den politischen Teil unseres Programms als Profil so entwickeln, dass man wahrnimmt, was wir dort in der Landesregierung tatsächlich abbilden.

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist doch ein riesenlanger Weg, vor allen Dingen für eine Partei, die sich so links orientiert hat wie in NRW.

Bodo Ramelow: Ohne uns würde es doch eine linke Debatte in Deutschland gar nicht geben. Ohne uns, ohne unsere Partei. 2005 beginnt unser Erfolgszug, unser Siegeszug, ohne uns hätte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in ihrem Programm den demokratischen Sozialismus gar nicht unter roten Artenschutz gestellt. Also, wir wirken ja auch auf die anderen Parteien. Und jetzt kommt auf einmal auch ein Wiedererkennen.
Ich nehme mal das aktuelle Beispiel der Finanzmarktkrise. Welche Antworten geben wir darauf? Wie gehen wir mit der Finanzmarktarchitektur um? Wie gehen wir mit Währungsparitäten um? Und welche gesellschaftlichen Antworten geben wir? Also, kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme oder gesellschaftsgedeckte Sozialversicherungssysteme? Das ist eine Kernfrage. In den USA hat man gerade das Reformprojekt des Jahrhunderts auf den Weg gebracht, eine Krankenversicherung für alle. Bei uns ist man gerade dabei, eine gut funktionierende Kranken- und Rentenversicherung kaputt zu machen, indem die Marktradikalen immer von der Kapitaldeckung geredet haben und damit die Finanzblase immer weiter aufblasen.

Deutschlandradio Kultur: Sie argumentieren bundespolitisch, aber Sie verkennen doch Ihre Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen. Die müssten doch einen doppelten Salto machen. Sie haben die SPD "Arbeiterverräter" genannt. Wie soll man da mit denen zusammenarbeiten?

Bodo Ramelow: Also, ich hab die Plakate gesehen. Ich war darüber nicht erfreut. Umgekehrt war ich aber auch nicht erfreut, von Frau Kraft jeden Tag zu hören, dass man uns aus dem Parlament raushalten will. Diese Form von Kaltem Krieg ist so alt und abgestanden. Sie widert mich auch nur noch an. Da, wo die SPD ihre eigenen sozialen Wurzeln verlassen hat, sind in Scharen Gründungsmitglieder zu unserer Partei gekommen. Da sind ehemalige Sozialdemokraten dabei, die ihre politische Heimat gesucht haben, weil sie Sozialpolitik machen wollen.
Und dann stellt sich Frau Kraft hin, verweist immer mit dem Finger auf uns und verleugnet sozusagen die eigene Mittäterschaft ihrer Landespartei, nicht von ihr persönlich, aber ihre Landespartei hat ja die Hauptakteure bei Hartz IV im Bundestag sitzen gehabt. Müntefering ist ein Gewächs und Steinbrück ist ein Gewächs aus dieser Partei. Und deswegen glaube ich, dass die Frage "Arbeiterverräter" nicht schön ist, nicht charmant ist, aber wenn ich mir Herrn Clement angucke, stimmt das Etikett sogar ausgesprochen präzise.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch mal bei der Linken, bei Ihrer Partei, die in NRW sagte, als es Rot-Rot in Brandenburg gab, dass sie das überhaupt nicht schön finde, weil man tatsächlich eine grundsätzliche Politikveränderung überhaupt nicht erreichen könne in einem Bündnis mit den Sozialdemokraten. Warum gerade diese Partei in NRW? Warum soll die jetzt in eine Koalition gehen mit Grünen und SPD?

Bodo Ramelow: Also, Sie schauen immer auf einzelne Meinungsäußerungen, die Sie reflektieren, und schlussfolgern auf die ganze Partei.

Deutschlandradio Kultur: Das sind zwei Strömungen.

Bodo Ramelow: Es gibt mehrere Strömungen. Und ich bin auch froh, dass wir mehrere Strömungen haben. Das ermöglicht ja erst unterschiedliche Debatten. Sonst wären wir ja eine Ein-Punkt-Partei, wie sie Herr Westerwelle aus der FDP mittlerweile gemacht hat an marktradikalem Teil. Da gibt's ja fast keine anderen Sichtweisen mehr. Und damit geht der Laden ja auch unter. Und deswegen bin ich froh, dass es bei uns verschiedene Meinungen gibt, verschiedene Strömungen gibt. Ja, auch diese Meinung zu Brandenburg ist vorgetragen worden. Und trotzdem verändern wir in Brandenburg einiges an gewichtigen Themen, die notwendig sind – auch für das Soziale in der Gesellschaft. Und in Brandenburg geben wir Antworten auf Fragen, die die CDU in Brandenburg nicht mehr gegeben hat. In Berlin sind wir sehr erfolgreich, eine Regierungskraft.
Und unser Wirtschaftssenator in Berlin hat gerade eine Thematik aufgelegt über die Rückeroberung von Netzen, Gasnetzen, Stromnetzen und Wassernetzen, also das Thema: Wie gehen wir in Zukunft eigentlich mit Daseinsvorsorgesystemen um? Das ist ja einmal Sozialversicherung, aber es ist eben auch das Thema Netze. Und insoweit war es in Nordrhein-Westfalen richtig, das Thema RWE und E.ON zu thematisieren. Da haben sich ja viele darüber aufgeregt, dass wir sagen, also, der Artikel 15 des Grundgesetzes ermöglicht, dass man monopolartige Strukturen aufbrechen kann, auch mit dem Element der Verstaatlichung. Ich selber bin allerdings der Meinung, dass der Begriff "Verstaatlichen" alleine nicht reicht. Vattenfall ist staatlich, gehört dem schwedischen Staat, benimmt sich aber genauso falsch wie E.ON und RWE.
Deswegen glaube ich, wir müssen über die öffentliche Kontrolle von Netzen reden. Und wir müssen dann sagen, was wir damit wollen, nämlich regenerative, dezentrale Energieproduktion nah am Menschen, und damit Ökologie und Ökonomie miteinander verbinden.

Deutschlandradio Kultur: Das sagen Sie, aber auf den Wahlplakaten stand: "RWE und E.ON verstaatlichen!"

Bodo Ramelow: Ja, aber es ist doch schön, dass Sie sich erinnern können. Das ist doch das, was man mit einem Plakat erreichen will. Und dann kommt die Debatte, sie setzt doch dann ein, wenn wir den Koalitionsvertrag verhandeln. Was heißt das für uns? Und ich glaube, dass man die monopolartige Macht der Stromkonzerne auf die Tagesordnung setzen muss. Es geht ja nicht um entschädigungslose Debatten, sondern es geht um die Frage: Wie kriegen wir den Zugang?
Und ich debattiere in Thüringen gerade, ob wir die Thüringer Energie AG von E.ON kaufen mit den Stadtwerken gemeinsam. Ich halte das für den besseren Weg und den richtigeren Weg, den wir in Thüringen im Moment ermöglichen können, gemeinsam mit all den Akteuren in den Stadtparlamenten, die da Verantwortung tragen.

Deutschlandradio Kultur: Aber es ist doch interessant, dass die ostdeutschen Landesverbände sich zum Regieren anders verhalten als die westdeutschen. Die ostdeutschen, beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, zuvor Sie in Thüringen, aber auch die in Sachsen-Anhalt, die wollen regieren. Die wollen diese Option. Nordrhein-Westfalen will diese Option eigentlich nie.

Bodo Ramelow: Wollte sie nicht. Und ich verstehe es auch gut, wenn man ein neuer Landesverband ist. Wir reden über eine Partei, deren Siegeszug vor fünf Jahren begann, deren rechtliche Existenz erst seit drei Jahren da ist. In diesen fünf Jahren haben wir es in 13 Landesparlamente, in den Bundestag und ins Europaparlament geschafft und tausendfach auch in Westdeutschland in Stadtparlamenten. Und in so einer Situation sagt natürlich die Parteiseele, es wäre mir lieber, erst mal Zeit zu haben, in der Opposition unser Profil zu stärken. Insoweit ist das, was wir im Osten haben, etwas anderes, nämlich Transformationserfahrung von 20 Jahren. Da ist ein ganzes System abgewickelt worden. Da sind ganz andere Brüche entstanden, auf die man Antworten geben musste. Und da gab es eine Partei, die PDS, die lange ausgegrenzt war. Da hatte auch das Ziel, aktiv in eine Regierung zu kommen, damit zu tun, um sich aus dieser Ausgrenzung zu befreien. Und es war ja nun nicht eine Liebessache der SPD, als sie dann anfing, in Sachsen-Anhalt die Tolerierung mit uns zu organisieren oder in Berlin uns aktiv in die Regierung hereinzunehmen usw.
Aber als Matschie die Frage beantworten musste, was passiert eigentlich, wenn unsere Partei erfolgreicher ist wie seine, wenn meine Partei fast 10 Prozentpunkte vor der SPD liegt, dann hat Matschie sich für die CDU entschieden und damit gegen eine politische Konzeption, von der ich vorhin geredet habe, nämlich eine Rückorientierung auf den Sozialstaat und das heißt, eine Debatte nach links zu verschieben. Und die Frage steht jetzt in Nordrhein-Westfalen. Das heißt, meine Genossinnen und Genossen in Nordrhein-Westfalen haben nicht die Situation, sich zu überlegen, wollen wir nur Opposition, sondern sie müssen sich überlegen: Wie können wir auch mit den Mitteln der Regierung Politik in ganz Deutschland verändern?

Deutschlandradio Kultur: Die Partei Die Linke hat ja im März einen Entwurf für ein neues Programm vorgelegt und sie beginnen jetzt die Programmdebatte. Ist da nicht das typische Problem? Sie erklären zwar Ihre Politik mit warmen Worten, sodass sie auch dem Laien verständlich ist, aber in Ihrer Programmatik schmettern Sie den Leuten alte Begriffe um die Ohren. Sie reden davon, der Sozialismus habe abgewirtschaftet, jetzt versuchen wir es noch mal neu. Wir nennen das nur "demokratischer Sozialismus". Das ist doch schwer verdauliche Kost.

Bodo Ramelow: Das mag sein. Das mag für manche, einen westdeutschen Hörer, der jahrzehntelang Antikommunismus erlebt hat, ein schwieriger Prozess sein. Und diese Diskussion der Programmdiskussion, auch um den Begriff "demokratischer Sozialismus", muss erneuert werden.
Es ist interessant. Wenn man heute sich das Ahlener Programm der CDU mal wieder vorholt, wenn man sich anguckt, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes und auch die Mütter und Väter der Bayerischen Verfassung mit dem Begriff der Kontrolle, der wirtschaftlichen Kontrolle in die Verfassung, also Verfassungsrang, eingebaut haben, da ist ganz klar eine andere Diktion mal existent gewesen. Die ist dann über Jahrzehnte hinweg aus allen Köpfen verschwunden. Die SPD hat bis heute noch den demokratischen Sozialismus in ihrer Programmatik, wollte ihn aber mal vor fünf Jahren aus ihrem Programm schmeißen. Und durch unsere Existenz ist es jetzt dort wieder drin.
Ich glaube, die Antwort auf Turbokapitalismus muss neu gegeben werden und die Antwort auf einen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der mittlerweile ganz normale Betriebe bedroht, also nicht nur irgendeinen Zocker und Spekulanten bedroht, sondern jetzt Realwirtschaft bedroht. Darauf müssen wir neue Antworten geben. Das ist eine Rückkehr und eine besonders gute Rückkehr, auch dass man sagt, Sparkassen sind ein wichtiger Treiber in dieser Gesellschaft. Sparkassen sind ein wichtiger Impulsgeber. Regionale Akteure, wie Stadtwerke, sind wieder etwas wert. Wir kommen wieder zurück, die Müllabfuhr selber zu organisieren und dieser Privatisierungswahn hört auf. Das sind alles Teilbegriffe, die in diese Diskussion mit reingehören.

Deutschlandradio Kultur: Aber noch mal das alte Argument: Die Landesbanken sind in kommunaler, in Landeshand und sie haben sich in der Finanzkrise schwer in Not gebracht, auch schon vorher, wenn man an die West LB denkt. Also, der vergesellschaftete Betrieb ist ja nicht unbedingt das politische Ideal.

Bodo Ramelow: Ich stimme Ihnen zu, wenn es einfach um den Selbstzweck ginge. Wenn ein Staatsbetrieb an sich gut wäre, dann hätte die DDR irgendwie anders enden müssen. Und die staatlichen Betriebe in Westdeutschland haben auch zeitweise bewiesen, dass sie es nicht können. Und auch genossenschaftliche Betriebe, die in der Hand der Gewerkschaften waren, haben, also, COOP, Neue Heimat, da muss man auch fairerweise dran erinnern, erheblich den Schaden, auch dem Imageschaden beigetragen der Genossenschaftsidee.
Das soll uns aber nicht daran hindern, die Frage Verstaatlichung oder öffentliches Eigentum oder Staatseigentum oder gemeinwohlorientiertes gebundenes Eigentum als eine Eigentumsform wieder mitzudenken. Und jetzt, glaube ich, müssen wir dann zu dieser Eigentumsfrage auch die Nutzenfrage stellen. Also, einfach nur ein staatlicher Energiekonzern ist nicht besser und nicht schlechter wie ein privater Energiekonzern, wenn er die falsche Unternehmenspolitik betreibt. Wenn wir es aber umändern wollen, dann müssen wir die Nutzensdebatte zuerst führen, bevor wir überhaupt über das Thema Verstaatlichen oder Vergesellschaften oder öffentliches Eigentum reden.

Deutschlandradio Kultur: Da müssen Sie sich ja richtig ärgern, wenn beispielsweise Sarah Wagenknecht diese Woche sagt, dass sie denkt, "eigentlich müssten alle DAX-Konzerne verstaatlicht werden". Und der Programmentwurf sieht das ja auch vor, dass man sagt, große Unternehmen müssten verstaatlicht werden.

Bodo Ramelow: Ja, ich hab nix dagegen, dass man darüber debattiert. Ich halte die Debatte für zulässig. Denn bisher ist es immer so: Wenn eins dieser Unternehmen anfängt abzusaufen, muss der Steuerzahler immer dafür geradestehen. Und am Schluss sind es die Beschäftigten, die ins Gras beißen, also, richtig böse ins Gras beißen.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben doch gerade selbst gesagt, dass es nicht unbedingt sinnvoll und besser wäre, wenn Sie jetzt große Unternehmen alle verstaatlichen und in der Sache nichts ändern.

Bodo Ramelow: Die Frage ist: Welchem Nutzen dient es? Es muss doch zulässig sein, darüber mal zu reden, wie es den Karstadt-Menschen gehen würde, wenn sie nicht von diesen Zockern ausgeblutet worden wären. Und es muss doch erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass es privatwirtschaftliche, wirklich reine Kapitalinteressen waren, die dazu geführt haben, dass fast alle Handelsunternehmen dieser Kategorie – Woolworth, Hertie, Karstadt – von innen her ausgehöhlt wurden von Finanzmarktakteuren, und dass man ihnen erst die Immobilien weggenommen hat. Und dann kann man sagen: Wenn wir wollen, dass es noch innenstadtprägende große Kaufhäuser gibt, dann müssen wir Bedingungen dafür schaffen. Aber ob man dafür einen staatlichen Konzern braucht, da hab ich meine Zweifel.
Und ich brauche eine gleiche Debatte für den ländlichen Raum. Wo haben wir denn in Zukunft im ländlichen Raum noch einen Ort, wo sich Menschen begegnen können, wenn mehr und mehr alles durch Discounter abgedeckt wird und keine Dorfläden mehr da sind? Da haben die nordischen Staaten bessere Antworten gegeben, indem sie Sozialräume beschreiben und auch eine Sozialplanung machen, wo man Gesundheitsvorsorge genauso mitdenkt wie den sozialen Treffpunkt, bis hin zu der Ladenversorgung oder dem Aushändigen von Dingen, die man von der Gemeindeverwaltung erwartet, wie den Reisepass oder so was. Das meine ich. Darüber muss man reden. Deswegen ist die Verstaatlichungsdebatte als Selbstzweck genauso unsinnig wie das Heiligsprechen der Börse.

Deutschlandradio Kultur: Aber wenn Sie die Programmdebatte verfolgen, dann sind doch da eben nicht die Pragmatiker, die so argumentieren wie Sie, unterwegs, sondern Leute, die sagen, wir wollen eigentlich mit dem System nichts gemein haben. Wir wollen erst ein besseres System haben, dann stellen wir auch gern den Ministerpräsidenten. Wer das bessere System schaffen soll, weiß man zwar nicht, aber eines ist ganz klar: Sie wollen nie, dass zum Beispiel ein Bodo Ramelow in Thüringen Ministerpräsident wird, weil dann macht man sich ja gemein mit dem kapitalistischen System.

Bodo Ramelow: Ich weiß nicht, wer "sie" ist, von dem Sie da gerade reden.

Deutschlandradio Kultur: Die Marxisten zum Beispiel in Ihren Reihen.

Bodo Ramelow: Ja, es ist ja auch erlaubt, dass Marxisten das aussprechen dürfen. Und ich begrüße, dass sie es aussprechen. Und ich sage immer: Solange die Marxisten mich als Christen in der Partei akzeptieren und wir dann trotzdem über die Marxsche Religionskritik genauso reden wie über das Zinsverbot der Bibel ist das in Ordnung. Wenn ich mit der CDU mal darüber rede, was in der Bibel drinsteht über Finanzmarktarchitekturen, welche Konsequenzen wir heute ziehen müssten, wenn die Bibel Maßstab für eine Partei mit dem C wäre, dann wäre ein Hedgefonds in Deutschland nicht zugelassen.
Die Meinungsäußerungen sind mir sehr willkommen. Ich kenne sie. Sie sind eine Minderheitsmeinung. Aber eine Programmdebatte lebt davon, dass man sich unterschiedliche Meinungen sagt. Denn die Programmdebatte läuft ein Jahr, und ich bin froh, dass wir uns ein Jahr Zeit nehmen, über all diese Einzelpositionen – öffentlich wahrnehmbar – zu debattieren, vielleicht auch zu streiten. Aber am Schluss entscheidet es, sozusagen nach Rostock, ein Jahr später der dann kommende Programmparteitag. Und dann werden wir sehen: Wie viel demokratischer Sozialismus ist drin? Wie erklären wir den demokratischen Sozialismus? Da wird aber auch die Frage drin sein, wie viel Verstaatlichung ist drin. Denn eins ist klar: Eine Linie, die heißt, alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, wird verstaatlicht, wäre einfach nur volkswirtschaftlicher Unsinn und gesellschaftlich kein erstrebenswertes Ziel. Deswegen glaube ich, dass man jeden Tag dafür sorgen muss, dass es für Menschen in diesem Land besser geht. Wir müssen jeden Tag praktische Antworten für Hartz-IV-Bezieher geben. Wir müssen gemeinwohlorientierte Arbeit, öffentliche Beschäftigung praktisch anlegen und wir müssen Menschen eine Perspektive geben. Das muss unsere Aufgabe sein, und nicht darauf zu warten, ob ein System zusammenbricht und dann wird es irgendwie, wächst wie Phönix aus der Asche etwas Neues. Das habe ich in Westdeutschland schon nie verstanden, diese Hoffnungen, die da entstehen. Das sind für mich keine Hoffnungen. Das sind auch keine Perspektiven.

Deutschlandradio Kultur: Können Sie denn aus der Programmdebatte, wie wir sie im Moment haben, schon Alternativen oder alternative Angebote für die Politik rauslesen? Oder geht's im Moment hauptsächlich um die Selbstfindung der Partei?

Bodo Ramelow: Sie fragen mich das während des Parteitages Rostock. Also, wir fangen jetzt erst an. Unser neues Führungspersonal soll Träger der Programmdebatte sein und muss Treiber der Programmdebatte sein. Deswegen haben wir im Moment einen Programmtext, den die Kommission vorgelegt hat. Aber eine inhaltliche Arbeit in dem Sinne, wie ich sie mir vorstelle, beginnt jetzt erst.
Und ich bleibe bei dem Beispiel: Einheitlicher flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn ist nur mit uns erreichbar – so wie in England, so wie in Frankreich. Das ist eine wirksame Alternative zu Niedriglohn und Hartz-IV-Aufstockertätigkeit. Ich finde es einen Skandal, dass in Thüringen ein Tarifvertrag 3,81 Euro als Stundenlohn festhält und dass dieser Tarifvertrag noch allgemein verbindlich ist und dass ein FDP-Abgeordneter ein Unternehmen hat, das diesen Stundenlohn auch zahlt. Das finde ich einen sozialpolitischen Skandal. Das ist Subventionierung von Unternehmen über die Erniedrigung von Menschen.
Und dann müssen wir natürlich für uns auch deutlich machen: Demokratischer Sozialismus ist eine Perspektive. Es ist keine Antwort. Und es ist keine Wiederholung der DDR. Der Staatssozialismus ist gescheitert an seinen eigenen Widersprüchen. Ich rede also über einen visionären Prozess, bei dem man auch sich darauf einstellen muss, völlig neue Ideen zu entwickeln.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben selbst von der Finanzmarktkrise gesprochen, doch habe ich den Eindruck, als sei die gar nicht in der innerparteilichen Diskussion angekommen. Diese Finanzmarktkrise fegt doch letzten Endes finanziell alle Spielräume weg – für die Kommunalpolitik, für die Innenpolitik, für alle hehren Ziele -, man könne irgendwelche Investitionsprogramme in Deutschland oder in Europa starten. Und eine Antwort der Linken auf die Frage steht aus.

Bodo Ramelow: Unsere Antwort heißt Keynesianismus. Ich rede von Investitionen. Das Interessante ist, ein Unternehmen arbeitet immer mit Investitionen. Bei der öffentlichen Hand sind es sofort Schulden und sind negativ. Die Frage ist: Was macht man mit dem Geld? Deswegen sage ich: Ein Dreiklang ist notwendig. Wir brauchen Keynesianismus als gesellschaftliches System, aber europaweit. Wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung, die auch regulativ eingreift, damit nicht einzelne Nationen gegen andere Nationen innerhalb des Euroverbundes kaputtgemacht werden. Und wir brauchen eine Finanzmarktarchitektur, bei der Währungsparitäten wieder im Mittelpunkt stehen. – Und das Ganze kombiniert mit einer ganz klaren Beendigung von Hedgefonds und von diesen Swaps und diesen ganzen Dingen, die man überhaupt niemandem, keinem Normalbürger mehr erklären kann. Leerverkäufe sind ein Teil dieser Katastrophe. Und man hat jetzt internationale Absicherungen für Banken gemacht. Und kaum hat man die Absicherung über Steuergelder gemacht, ging das Spekulieren, auf Griechenland zum Beispiel, los.
Ich will Griechenland überhaupt nicht in Schutz nehmen. Da sind viel Schweinereien gemacht worden, aber es haben alle Beteiligten gewusst, haben weggeguckt. Aber die Staatspapiere, die Griechenland ausgegeben hat, haben auch die deutschen Banken gekauft. Immerhin 40 Milliarden haben wir in unseren Büchern mit 9 Prozent verzinst. Die deutschen Banken haben die 9-prozentige Verzinsung jetzt garantiert bekommen. Und gleichzeitig darf die gleiche deutsche Bank sich für 1 Prozent bei der EZB das Geld leihen. Das ist Reichtumsumverteilung, die in die Katastrophe führt, weil am Schluss das System zusammenbricht. Das kann man nun wahrlich nicht den Linken anlasten. Da kann ich nur sagen: Unsere Antwort darauf heißt, dieses alles gesetzlich zu verbieten und die Tobin Tax einzuführen.

Deutschlandradio Kultur: Das ist doch die eine Seite. Die andere Seite ist die Etatkrise, die wir in allen europäischen Ländern, in allen Regionen, in allen Kommunen haben.

Bodo Ramelow: Das eine hängt mit dem anderen zusammen.

Deutschlandradio Kultur: Aber sie müssen jetzt sparen.

Bodo Ramelow: Ja. Das Problem ist, dass die gesamte Privatisierungsarie den Staat so teuer gekommen ist. Man hat Ausgründungen gemacht, die hinterher teurer waren, als wenn man die Modernisierung des Systems vorangetrieben hätte. Ich will das Beispiel sagen, weil das muss man sich immer praktisch angucken: Müllabfuhren, die mittlerweile für die Bürger teurer sind, als wenn es weiter von der öffentlichen Hand gemacht worden ist.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie in Ostdeutschland gemacht.

Bodo Ramelow: Wir erleben ja jetzt, dass Müllabfuhren auch in Westdeutschland wieder zurück in die öffentliche Hand geholt werden, weil sie es besser können. Wir haben in Thüringen die Privatisierung der Straßenreinigung, also der Straßenunterhaltungs-TSI-Gesellschaft gehabt. Da hat jetzt das Land Hessen nachgefragt, ob man von der TSI, also der Thüringer Gesellschaft mal ein Angebot kriegt. Und die hessische Landesregierung derzeit ist nun wirklich nicht von uns getragen. Dann hat der hessische Minister von der FDP abgewunken, hat gesagt, viel zu teuer, viel zu unattraktiv. Aber Thüringen, hat der Landesrechnungshof festgestellt, kostet mittlerweile dreimal mehr, dieses privatisierte System zu finanzieren. Es ist nur kein öffentlicher Bediensteter mehr. Aber das System selber kostet viel, viel mehr.
Und es gibt eine Geschichte, bei der ich – ich will's einfach sagen – ein Paradoxem, dass man auf jede Ware in unserem Land Mehrwertsteuer bezahlen muss, aber den Finanzmarkt wie einen Warenladen organisiert hat, aber keine Mehrwertsteuer auf Finanzmarktartikel erhebt. Das ist ein Teil des Problems, dass wir nämlich erleben, dass die Finanzströme alle unbesteuert sind und damit das Vagabundieren ständig noch angeheizt wird.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ramelow, Sie haben klare politische Vorstellungen und kandidieren dennoch nicht für den Bundesvorstand auf dem Parteitag an diesem Wochenende. Wie kommt das? Haben Sie keine Lust mehr?

Bodo Ramelow: Nein, es ist einfach eine Phase bei mir: Fünf Jahre hab ich einen Knochenjob gemacht, von der Kandidatur 2005 bis zur Gründung war ich in führender Position und war eine der treibenden Kräfte, dass der Erfolg auch eintritt. Ich gestatte mir jetzt eine Auszeit, was den Parteivorstand angeht, weil ich in der Rolle als Fraktionsvorsitzender in der Fraktionsvorsitzendenkonferenz stärker mitspielen möchte. Das heißt, ich bringe mich an einer anderen professionalisierten Seite ein, weil ich auch der Meinung bin, wir müssen die Landtagsfraktionen in Gänze besser miteinander verzahnen. Wir sind da auf einem guten Weg und ich möchte auch den Kopf freihaben dafür.
Und es gibt so ein Hobby, das ich zurzeit betreibe, und das möchte ich gern bundesweit weiter betreiben. Das ist die ganze Thematik Web 2.0. Da muss auch eine Partei sich viel besser aufstellen. Und das ist mein Thema. Das habe ich mir seit einigen Monaten zu Eigen gemacht. Ich bin jetzt nicht mehr auf einer formalen Funktion. Ich möchte inhaltlich für die gesamtdeutsche Partei arbeiten. Und das werde ich. Es wird niemand darunter leiden, dass ich nicht mehr zu hören wäre.

Deutschlandradio Kultur: Danke, Herr Ramelow, für dieses Gespräch.

Bodo Ramelow: Bitte, gerne.
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